Das Geheimnis der toten Voegel
regnen. Also haben sie sich in das Zelttuch eingerollt und unter einem Baum geschlafen. Wir haben uns darüber und über andere Sachen lustig gemacht. Aus irgendeinem Grund wurde Lennie superwütend, und als Sandra hinter ihm her auf den Balkon ging, drehte er ihr den Arm um, dass es knackte. Ich bin gleich nachgekommen und habe zu ihm gesagt, er solle das lassen, da hat er mich zurückgestoßen. Ich bin gestolpert und habe mir zwei Finger der linken Hand verstaucht, als ich mich abstützen wollte.«
»Ist so was öfter passiert? Glauben Sie, dass Lennie Sandra geschlagen hat?«
»Ich weiß es nicht.« Clary rieb sich die Augen, als sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. »Ich habe meine kleine Schwester geliebt, und ich wollte nur das Beste für sie. Aber danach kriegte ich den Eindruck, als würde Lennie sie vor ein Ultimatum stellen: er oder die Familie.«
»Und sie wählte Lennie?«
»Ja. Außerdem hat er nicht die Wahrheit gesagt. Hat bei Sachen gelogen, die eigentlich ganz einfach nachzuprüfen waren. Dass er bei Unfällen dabei gewesen wäre und Leute gerettet hätte, ehe der Notarzt kam, obwohl er nicht einmal in der Nähe war. Er hat damit angegeben, irgendwelche Promis getroffen zu haben, die aber zu der Zeit in Wirklichkeit gerade auf einer Auslandstournee waren. Wenn man selbst mal was erzählt hat, dann hatte er immer was erlebt, was toller oder schrecklicher war, und wenn man dann nachfragte, wurde er sauer. Ich hätte Sandra was Besseres gewünscht. Wirklich. Ich war froh, als ich hörte, dass er ausgezogen sei, und ich dachte, dass wir uns wieder näherkommen könnten, so wie früher. Und jetzt ist sie tot. Das ist so unbegreiflich. Sie war so lebensfroh, so voller Leben und Energie. Wissen Sie, wie es passiert ist?« Clary schauderte und kauerte sich auf ihrem Stuhl noch mehr zusammen. Maria empfand plötzlich Zärtlichkeit für sie.
»Es weist alles darauf hin, dass sie erwürgt wurde.«
»Erwürgt? Warum? Hat sie jemand … angerührt? Ich meine, sich an ihr vergangen?« Es fiel Clary schwer, die Worte auszusprechen.
»Es ist zu früh, um das zu sagen. Wissen Sie, ob Sandra jemanden kannte, der Florian Westberg heißt, einen Journalisten?«
»Nein.« Clary schüttelte den Lockenkopf. »Noch nie von ihm gehört. Wenn diese Information von Lennie stammt, dann würde ich es mit Vorsicht genießen. Er hat immer versucht es so darzustellen, als ob Sandra Affären gehabt hätte, damit er selbst in der Gegend rumvögeln konnte. Bitte entschuldigen Sie den Ausdruck, aber er war so was von forsch, wenn er etwas getrunken hatte. Sandra ging am Ende gar nicht mehr mit ihm aus. Sie blieb lieber zu Hause, als Gefahr zu laufen, sich zu Tode schämen zu müssen. Ich war so froh, als ich hörte, dass sie ihn rausgeschmissen hatte. Endlich, und jetzt …« Da kamen die Tränen. Das war eine Befreiung. Das Zucken des Körpers ebbte ab, und als sie dann, nachdem Maria noch ein paar weitere Fragen gestellt hatte, aufstand, um zu gehen, schien sie wieder gefasst.
Maria blieb noch am Computer sitzen, ohne sich rühren zu können. Die Gedanken an Emil tauchten auf, sowie sie sich nicht mehr zwang, an etwas anderes zu denken. Mit einer Willensanstrengung unterdrückte Maria ihren Wunsch, bei Jonatan Eriksson anzurufen. Der hatte genug zu tun, und er hatte versprochen, sich zu melden, wenn es Emil in irgendeiner Weise schlechter ginge.
Während Maria sich ins Internet einloggte, überdachte sie die Informationen über Lennie, die sie von der Nachbarin und jetzt eben von Sandras Schwester erhalten hatte. Was davon war die Wahrheit? Zwei unterschiedliche Bilder. Unvereinbar. Oder sind wir alle so kompliziert und widersprüchlich, je nachdem, mit wem wir gerade zusammen sind? Maria klickte weiter, suchte im Personenregister nach Florian Westeberg und fand zwei Kandidaten im passenden Alter. Einer von ihnen war Journalist. Nicht vorbestraft. Vielleicht lag doch ein Körnchen Wahrheit in dem, was Lennie gesagt hatte. In diesem Augenblick kam Hartman herein und setzte sich mit einem halb gegessenen Baguette in der Hand auf den Besucherstuhl, die Mayonnaise glänzte an seinem Mund. Maria fiel ein, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.
»Ich habe mit Håkansson gesprochen«, meinte Hartmann. »Er hat einen ersten Durchgang mit Sandra Häggs Computer gemacht. Sie war gerade im Outlook. Es gibt da das eine oder andere, was sich lohnen würde, näher anzuschauen. Gestern Abend hat sie mit einem
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