Das Geheimnis der Totenkiste
sehen, wie sein improvisiertes Steuer funktionierte.
Aber er wußte auch, daß er keine wirkliche Ruhe finden konnte, ehe er die Verantwortung über das verlassene Schiff los war. Seine Nächte würden von Alpträumen geplagt sein, bis er endlich in London von Bord gehen konnte.
4.
In London, in seinem hochherrschaftlichem Stadthaus, begann die tägliche Routine für Professor Eli Podgram, der vielen als der Spezialist bekannt war. Eine Tasse aus kostbarem Porzellan, aus der der Duft frisch gebrühten Kaffees aufstieg, stand auf einem Tisch mit Marmorplatte, die früher einmal ein Teil des Katafalks Ezkan Sgurs, der Nachtwanderers von Eritrea, gewesen war.
Auf einem anderen, kleineren Tischchen, dessen harmloses Aussehen nicht auf seine finstere Vergangenheit als Altar des Blutkults deutete, lagen die Morgenzeitungen. Eli überflog sie. Nur wenig darin interessierte ihn, nicht das Feuilleton, nicht die Börsenberichte, nicht die Gesellschaftsspalten und auch nicht der politische Teil.
Wonach er Ausschau hielt – und was selten veröffentlicht wurde – waren Berichte, Notizen, die gewöhnlich nur in wenigen Zeilen und in meist spöttischem Ton abgehandelt wurden – Bemerkungen über Okkultes, über Unerklärliches, über ein Haus, in dem es spukte, beispielsweise, über merkwürdige Todesursachen, über esoterische Zeremonien. Das waren die Dinge, die sein volles Interesse fanden.
Diesmal enttäuschten die Zeitungen ihn nicht. Was er suchte, stand sogar groß auf der ersten Seite.
Ehe er sich die anderen vornahm, las er, was die Times zu sagen hatte.
EINE NEUE MARIE CELESTE? Diese Schlagzeile nahm die halbe Breite ein. Darunter stand, ebenfalls in fetten Lettern: DAS RÄTSEL DES VERLASSENEN SCHIFFES UND DER VERSCHWUNDENEN SEELEUTE.
Ein verhältnismäßig genauer Bericht folgte, wie die Männer der Unity die Grijt Henryk gesichtet und sie abgeschleppt und zur Themse gebracht hatten. Die beiden Schiffe lagen nun in Greenwich vor Anker. Es fehlten auch die Interviews mit Kapitän Macneil und einigen Mannschaftsmitgliedern nicht.
Eli schenkte diesen Interviews besondere Beachtung. Während seine grauen Augen die Zeilen lasen, bildete sich eine tiefe senkrechte Stirnfalte. Er lehnte sich einen Augenblick zurück und faltete die Hände über dem Bauch. Er ließ sich das eben Gelesene in Ruhe durch den Kopf gehen. So sehr konzentrierte er sich darauf, daß es äußerlich fast den Eindruck erweckte, er schlafe. Aber er war in seinem ganzen Leben nie wacher gewesen.
Seine Nasenflügel zuckten. Es schien ihm, als müßte er den Ausbruch einer neuen Auseinandersetzung mit der Schattenwelt geradezu riechen.
Er griff erneut nach der Zeitung und las den Artikel ein zweites Mal. Sein Gesicht wurde noch ernster als zuvor. Seine feingliedrigen Finger zogen an der Glockenschnur, die neben seinem Lehnsessel hing.
Sein Diener-Butler-Gefährte Hugo, ein Riese von Gestalt, eilte herbei, als habe er unmittelbar vor der Tür gestanden und nur darauf gewartet, gerufen zu werden – was tatsächlich der Fall gewesen sein mochte.
» M’sieu? «Der Eli treu ergebene Franzose aus der Camargue, jenem einsamen Marschland an der Rhonemündung, blickte seinen Herrn erwartungsvoll an.
»Wir werden nach Greenwich fahren, mon brave. Sorge für eine Droschke in etwa einer halben Stunde.«
»Oui, M’sieu. Und Mamselle Mara? Soll ich ihr Bescheid geben?«
»Nein, ich denke nicht. Für den Anfang genügen wir zwei.«
Als Hugo den Raum verließ, studierte Eli den Zeitungsartikel ein drittes Mal. Schließlich erhob er sich aus seinem bequemen hochlehnigen Sessel und marschierte in seinem Arbeitszimmer auf und ab, in dem er gewöhnlich seine erste Tasse Morgenkaffee trank. Ja, er war sich fast sicher. Da war die Schattenwelt am Werk.
Und in Dingen, die mit der Schattenwelt zusammenhingen, war Professor Eli Podgram vermutlich der Welt größter Experte.
Denn es hatte einmal eine Zeit gegeben, als er selbst zu jenem Reich gehörte, wo das, was wir unter Realität verstehen, und das Esoterische zusammentreffen und sich vermischen – jenes nicht völlig definierbare Gebiet zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit, zwischen den Lebenden und den Untoten. Welchen Schock hätte es seinen Freunden und akademischen Kollegen versetzt, wenn sie erfahren hätten, daß er tatsächlich selbst einmal ein Vampir gewesen war!
Elis Großvater väterlicherseits war Graf im rumänischen Transsylvanien gewesen. Da sein Vater jedoch nicht als Erstgeborener
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