Das Geheimnis der Totenkiste
ihn während des gesamten Weges. Vage Gelüste, wie er sie nie zuvor gekannt hatte, erwachten in ihm.
Das flackernde Licht einer Laterne hüpfte durch die Bäume, noch ehe er die Burg erreichte.
»Es ist schon spät, Euer Exzellenz, und wir fürchteten um Eure Sicherheit«, entschuldigte sich der alte Majordomus. »Die Wölfe sind dieses Jahr besonders zahlreich, auch treiben Räuber in der Gegend ihr Unwesen.«
»Ich bin alt genug, selbst auf mich aufzupassen«, erwiderte er mit ungewohnter Schroffheit, und ging ohne ein weiteres Wort an dem greisen Diener vorbei, zurück zur Burg und in sein Schlafzimmer – und zu einer Nacht voll Alpträume, wie er sie in ihrer Grauenhaftigkeit nie zuvor gekannt hatte.
Am Morgen beim Rasieren entdeckte er zwei kleine Einstiche an seinem Hals, die er für Insektenbisse hielt. Einen Augenblick glaubte er, seine Fingerspitzen brannten, als er die winzigen Male betastete, aber dieses Gefühl hielt nur einen so winzigen Augenblick an, daß er sich nicht sicher war, ob er es sich nicht nur eingebildet hatte.
Merkwürdigerweise erinnerte er sich jedoch kaum noch an die Begegnung im Wald, an den Fremden, genausowenig wie an die Eisentür im zerfallenen Haus.
Hatte es überhaupt eine Begegnung gegeben? Oder war das alles nur eine Sinnestäuschung gewesen, die ihm die Schatten der Nacht vorgegaukelt hatten? Vielleicht hatten ihn lediglich Fieberträume gequält…
Schulterzuckend ließ er sich zum Frühstück nieder und überlegte, wie er den Tag am angenehmsten verbringen könnte.
Aber Eli Podgram sollte dieser Tag nichts Angenehmes bringen.
Er trank noch von seinem Kaffee auf der sonnenüberfluteten Terrasse, als der Majordomus mit schreckerfülltem Gesicht und zitternden Händen auf ihn zukam.
»Euer Exzellenz… Exzellenz, jemand hat die eiserne Tür geöffnet!«
Eli blickte ihn erstaunt und fragend an. Der Greis begann stammelnd zu erklären. Vor Generationen war ein Vampir auf Podgramschen Land gefangen worden. Ein Vampir, der der Erzherzog des benachbarten Szlig sein sollte. Man hatte ihn im Keller des Häuschens gefangengesetzt, das nun halbzerfallen war. Eine Eisentür war angebracht worden, und die Riegel hatte man des öfteren erneuert.
»Jetzt hat jemand ihn befreit«, jammerte der Majordomus. »Das Böse geht wieder um im Land. Wir sind verloren…«
Eli erschrak zutiefst, denn nun wußte er, was er getan hatte. Und er war nun ganz sicher, daß dieser Fremde nicht nur eine Gestalt seiner Einbildung gewesen war.
Sein Bewußtsein zuckte vor diesem Wissen zurück. Er hatte den Vampir befreit! Und aus seiner eigenen Sicht war etwas noch viel Schrecklicheres geschehen - er trug nun die grauenhafte Saat des Vampirs in seinem Blut.
Er versuchte sich an das Wenige zu erinnern, das er über Vampirismus gehört hatte. Es waren verzerrte Legenden und Halbwahrheiten von den Lippen seiner Ammen und anderen Dienstboten.
Mythen und Legenden, irrer Aberglaube – dafür hielt er es jedenfalls während seiner Schul- und Universitätsjahre in England.
Aber nun nicht mehr. Nicht hier.
»Weshalb hat man ihn nicht an einer Kreuzung mit einem Pfahl durchs Herz begraben? Ist das nicht die einzige sichere Weise, einen Vampir für immer zu töten?«
»Euer Exzellenz, das – das ist zwar richtig, aber – aber…«
Der Alte stammelte verlegen. »Euer Exzellenz, er war edlen Geblüts, ein Erzherzog… Euer Ururgroßvater hielt es nicht für standesgemäß…«
Eli verstand. In diesem Land, wo der Feudalismus großgeschrieben wurde, gingen die Rechte eines Edelmannes über alles andere.
»Schön.« Er nickte. »Ich werde mich der Sache annehmen. Laß vom Schmied ein paar Silberkugeln für meine Pistolen gießen.«
Auch daran entsann er sich noch aus seiner Jugend – nur Silberkugeln vermochten gegen einen Vampir etwas auszurichten, andere konnten ihm nichts anhaben.
Der Majordomus blickte ihn besorgt an.
»Euer Exzellenz wollen doch nicht etwa allein gegen seine Hoheit, den Erzherzog von Szlig, vorgehen…«
»Ich bin es nicht gewohnt, daß man meine Handlungen in Frage stellt«, knurrte Eli barsch.
Es hatte seine Vorzüge, der Aristokratie anzugehören, man brauchte sich Untergebenen gegenüber nie zu rechtfertigen oder gar zu entschuldigen.
Denn wie könnte er dem Alten erklären, daß er selbst es gewesen war, der das Grauen auf sie herabbeschworen hatte, und daß es deshalb auch seine Pflicht war, es unschädlich zu machen. Noblesse oblige war der Nachteil des
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