Das Geheimnis der Totenmagd
Leben!«
»Das hoffe ich auch«, murmelte Anna beschwörend. Plötzlich war ihr ganzer Mut verflogen, und sie wurde von schlimmen Ahnungen geplagt.
Als sie wenig später am Haus des Henkers ankamen, war den beiden doch recht mulmig zumute. Sie stiegen von den Pferden, leinten die erschöpften und vom Sturm verängstigten Tiere an einen Holzpfosten des Vordachs und näherten sich der Eingangstür.
Das Backsteinhaus lag im absoluten Dunkel, nicht der kleinste Lichtstrahl drang durch die Ritzen der Tür, und aus dem Innern war kein Laut zu vernehmen.
»Sind die etwa schon schlafen gegangen?«, raunte Anna verwundert.
»Sei ruhig! Ich höre etwas«, zischte Florian und lauschte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit. Im Getöse des Windes war ein lautes Klappern auszumachen, das von der Seitenfront des Hauses zu kommen schien. Florian und Anna gingen dem Geräusch nach und entdeckten die Flügel eines Fensterladens, die im Sturm auf- und zuklappten. Im diffusen Licht ihrer Teerfackel konnten sie an der Außenseite des Ladens einen zertrümmerten Eisenriegel ausmachen, und bei genauerer Begutachtung fiel ihnen auf, dass auch das Holz beschädigt war.
»Das sieht nach Einbruch aus«, flüsterte Anna mit düsterer Miene.
»Ich würde sagen, eher nach einem Ausbruch«, erwiderte Florian mit gedämpfter Stimme und deutete auf die tiefen Schrammen und Kerben auf der Innenseite des Ladenflügels.
»Ist denn da niemand zu Hause?« Anna hielt die beiden Ladenflügel auseinander und spähte durchs Fenster.
»Es ist offen«, murmelte sie tonlos. »Das Fenster ist offen!«
Florian befestigte die Fensterläden außen in den Wandhalterungen und tippte leicht gegen den Fensterrahmen. Der Fensterflügel schwang auf. »Hallo, ist da jemand?«, rief er, während er den Kopf durch die Öffnung steckte, doch es regte sich nichts.
»Komm, wir klettern rein. Ich mache den Anfang und helfe dir dann«, sagte Florian und schwang das Bein über das Fensterbrett. »Vorsicht«, mahnte er, »da sind überall Glasscherben.«
Als Anna auf die Holzdielen der Stube trat, knirschte es vernehmlich unter ihren Füßen. Florian schloss das Fenster, damit es nicht wieder aufflog. Der Wind fegte pfeifend durch die geborstene Glasscheibe.
In dem Raum herrschte ein heilloses Durcheinander. Teller mit Essensresten und eine Vielzahl leerer Flaschen und Trinkbecher standen auf dem Tisch, auch ein großer Mörser mit einem Stößel war zu sehen. Es stank nach kaltem Rauch, Branntwein, fauligen Speisen und nach Schweiß. Im Kamin war noch Glut, davor lagen zwei unsaubere Strohsäcke mit fleckigen Wolldecken.
»Hallo, ist denn niemand zu Hause?«, rief Florian erneut. Doch auch diesmal blieb es still. Florian und Anna standen einen Augenblick ratlos in der Stube.
»Irgendetwas stimmt hier nicht. Das sagt mir mein Gefühl«, flüsterte Anna und sah sich weiter um. »Hier hinten auf dem Boden ist eine offene Klappe, ich wäre eben um ein Haar ins Leere getreten. Komm mal her mit der Fackel.«
Florian eilte herbei und leuchtete in die Öffnung. »Da führt eine Holzstiege nach unten, und mir kommt es so vor, als würde da unten auch irgendwo Licht brennen. Vielleicht sind die ja im Keller. – Hallo, ist da jemand?« Auch dieses Mal erhielten sie keine Antwort. »Gut, ich steige jetzt mal da runter. Du kommst nach, wenn ich unten bin. Ich leuchte dir dann, dass du die Stufen siehst.«
Vorsichtig kletterte Florian die steile Holztreppe hinab, die bei jedem seiner Schritte vernehmlich knarrte und ächzte. Ein durchdringender Modergeruch schlug ihm entgegen. Schließlich war er unten angekommen und stand auf festgestampftem Lehmboden. Er leuchtete mit der Fackel, die inzwischen wieder lodernd brannte, und gewahrte, dass er sich am Anfang eines langgezogenen, gewölbeartigen Ganges befand. Aus dem hinteren Bereich, den er nicht genau erkennen konnte, war tatsächlich ein schwacher Lichtschein zu sehen. Florian trat wieder an die Treppe und hielt die Fackel so, dass die Stufen ausgeleuchtet waren.
»Du kannst kommen«, zischelte er in Annas Richtung. »Aber sei vorsichtig, die Treppe ist sehr steil und schmal.«
Mit dem Rücken nach außen gewandt, kletterte Anna langsam herunter. Sie keuchte vor Anspannung und hatte oben vor dem Abstieg noch einmal ihre Armbrust inspiziert. Der Bolzen war gespannt.
Der alte Jockel hatte ihr bereits in jungen Jahren das Armbrustschießen beigebracht, und Anna galt in der erlauchten Jagdgesellschaft des Hohen Taunus als
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