Das Geheimnis der Totenmagd
Wachdienst am zugigen Stadttor und genehmigten sich vor dem wohlverdienten Feierabend noch einen tiefen Schluck aus der Branntweinflasche, die Scheingraben in der kalten Jahreszeit immer unter dem Wams zu tragen pflegte. Dann griff sich jeder eine der Fackeln aus der Wandhalterung seitlich des Torbogens, um im Schneetreiben den Heimweg zu finden.
Gerade wollten sie aufbrechen, als sie unversehens angesprochen wurden. Unwillig wandten sie sich um und gewahrten zwei schneebedeckte Gestalten hoch zu Ross. Die eine davon, der Stimme nach eindeutig eine Frau, erkundigte sich höflich, ob sie sich etwas hinzuverdienen wollten. Wenn sie ihnen das Tor aufschließen und sie hinauslassen würden, zahle sie jedem von ihnen fünf Heller.
Die Torwärter überlegten kurz, dann meldete sich schließlich Scheingraben als der Dienstälteste zu Wort und raunte mit gedämpfter Stimme: »Sieben für jeden, und Ihr kriegt noch die Fackel dazu.«
»Abgemacht«, erwiderte die Reiterin, nestelte ein paar Münzen unter ihrem Umhang hervor, zählte sie im Licht der Pechfackel ab und reichte sie Scheingraben. Dieser nickte nur mit dem Kopf, zückte aus seinem ledernen Brustbeutel einen großen Bartschlüssel und traf Anstalten, das wuchtige Stadttor aufzusperren.
»Hinter Euch muss ich aber wieder zuschließen. Ihr müsst dann halt sehen, wo Ihr über Nacht bleibt. In die Stadt zurück könnt Ihr jedenfalls erst morgen früh wieder«, knurrte er und blickte sich ängstlich um. »Dass uns bloß keiner sieht! Das kann uns Kopf und Kragen kosten … Habt Ihr am Ende sogar Dreck am Stecken?«, erkundigte er sich argwöhnisch.
»Im Gegenteil. Wir hatten uns sogar der Bürgerpolizei angeschlossen. Doch die hat bei Einbruch der Dunkelheit die Fahndung nach dem Stadtarzt eingestellt, und wir wollen noch weiter nach ihm suchen. Möglicherweise hält er sich ja im Galgenviertel versteckt. Wir sind ehrenwerte und unbescholtene Stadtbürger.«
»Unbescholtene Leute treiben sich nachts nicht im Galgenviertel herum und erst recht keine ehrbaren Frauenpersonen«, erwiderte Scheingraben schnippisch und entriegelte knarrend das Schloss. »Dort ist es schon tagsüber gefährlich genug. Na, mich geht’s ja nichts an. Wenn Ihr unbedingt Ärger haben wollt, dann müsst Ihr das selber wissen. Aber wenn irgendwas passiert: Ich weiß von nichts«, bemerkte er kopfschüttelnd und ließ Anna und Florian passieren.
*
Wie eine Marionette hob Katharina den Arm und führte den Zinnbecher an den Mund, während sie den Mann, der die Fäden in der Hand hielt, gebannt anblickte.
»Runter mit dem Zeug, du Hure«, herrschte er sie an, und sein Blick verdüsterte sich. Erneut drang ihr die Dolchspitze in die Haut, und sie zuckte vor Schmerz zusammen. Ein Beben ging durch ihren Körper und versetzte sie von den Zehenspitzen bis zu den Haarwurzeln in höchste Anspannung. Sie wusste genau, sie durfte keinen Augenblick mehr zögern. Die Sehnen ihres linken Unterarms, der auf die Tischkante gestützt war, waren bis zum Zerreißen gespannt, die Hand war zur Faust geballt. Und dann ging alles sehr schnell.
Mit einem heftigen Ruck schnellte Katharinas Arm nach oben gegen Reinfrieds Handgelenk, so dass die Hand mit dem Dolch ein Stück weit von ihrem Hals wegfuhr. Gleichzeitig rammte sie ihm mit aller Wucht den gefüllten Zinnbecher ins Gesicht, sprang auf und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Mich kriegst du nicht, du Bestie!«
Schäumend vor Wut und mit gezücktem Dolch wollte sich Reinfried auf sie stürzen, da ergriff Katharina den Wasserkrug und schlug ihn krachend gegen seine Schläfe.
Reinfried sackte augenblicklich in sich zusammen.
Katharina stürzte zur Kerkertür und streckte die Hand durch die Eisenstäbe, inständig darauf hoffend, dass der Schlüssel von außen im Schloss steckte. Doch ihre Hand griff ins Leere.
Kilian!, ging es ihr durch den Sinn. Er hat doch einen Schlüssel für die Tür … Es kostete sie einige Überwindung, an den Tisch zurückzukehren, auf dem regungslos Reinfrieds Kopf lag. Mit angehaltenem Atem ging sie an ihm vorbei.
Einen flüchtigen Moment lang zog sie in Erwägung, ihm mit dem wuchtigen Zinnkrug, der auf der Mitte des Tisches stand, den Schädel zu zertrümmern. Doch bei allem Hass gegen ihren Peiniger brachte sie es doch nicht über sich, den Wehrlosen meuchlings zu erschlagen. Nur schnell weg von hier …
Sie beugte sich zu Kilian von Hattstein herunter, der starr und zusammengekrümmt auf dem Stuhl kauerte, und
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