Das Geheimnis der Totenmagd
empfand plötzlich eine tiefe Trauer. Behutsam schloss sie ihm die Lider, bekreuzigte sich und murmelte »Friede mit deiner Seele«, ehe sie ihre Hand in die Seitentasche seiner Kutte gleiten ließ und gleich darauf den großen Bartschlüssel zu fassen bekam.
»Danke, Kilian«, seufzte sie erleichtert und hastete zur Tür zurück. Mit zitternden Händen entriegelte sie das Schloss, stürzte nach draußen und schloss hinter sich die Tür ab. Dann eilte sie durch den langen, dunklen Gang, stolperte die hölzernen Trittstiegen hinauf und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Luke, die sich knarrend öffnete. Ihr Herz war schier am Zerbersten, und ihre Lunge brannte, als sie in die Stube kletterte.
Der Raum wurde vom schwachen Glimmen einer heruntergebrannten Talgkerze nur notdürftig erhellt. An der rechten Stirnseite konnte sie die Haustür ausmachen. Eilig drückte Katharina die Klinke, aber die Tür war verschlossen. Während sie versuchte, das Schloss mit dem Kerkerschlüssel zu entriegeln, geriet sie derart ins Schwitzen, dass ihr die Schweißtropfen in die Augen rannen. Der Schlüssel passte nicht!
Panik schnürte ihr die Kehle zu, sie fühlte sich wie ein Tier in der Falle. Doch schon im nächsten Augenblick besann sie sich wieder und wandte sich einem der beiden Fenster zu. Seine schmutzigen Butzenglasscheiben ließen sich zwar mühelos öffnen, doch die Fensterläden waren geschlossen und gaben einfach nicht nach. Wie von Sinnen hämmerte Katharina mit den Fäusten gegen den Holzladen, doch er gab nur ein quietschendes Knarren von sich und rührte sich nicht. Beim anderen Fenster erging es ihr ebenso.
Schließlich sah sie ein, dass sie es so nicht schaffen würde, und schaute sich nach einem geeigneten Werkzeug um.
Als sie wenig später das kleine Handbeil entdeckte, das an der Feuerstelle lag, wusste sie, dass sie den Weg nach draußen gefunden hatte. Entschlossen packte sie die Axt am Griff, ging zu einem der Fenster, holte Schwung und schlug fest auf den Eisenriegel des Fensterladens. Er gab bereits nach. Mit grimmigem Gesichtsausdruck haute sie noch einmal dagegen und durchtrennte vollends den Riegel.
Die Ladenflügel öffneten sich weit nach außen, und der Wind wehte dichte Schneeflocken in ihr erhitztes Gesicht. Gierig sog sie die eisige Nachtluft ein und freute sich wie ein Kind. Sie legte die Axt, die sie möglicherweise noch gut gebrauchen konnte, auf die Fensterbank und kletterte hinaus. Wie eine Katze landete sie auf allen vieren im hohen Schnee.
Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte sie durch das Schneetreiben und versuchte, sich zu orientieren. Ganz in der Nähe konnte sie das Hochgericht mit dem Galgen erkennen. Sie würde sich in diese Richtung halten und dann an der nächsten Hütte anklopfen und um Hilfe und Unterschlupf für die Nacht bitten.
Katharina packte die Axt und rannte in die Nacht hinaus.
25
Keine Menschenseele war auf den Gassen, als Florian und Anna durch das berüchtigte Viertel der Ehrlosen ritten. Das Schneetreiben war inzwischen zu einem Schneesturm mit heftigen Windböen angewachsen, und alle Bewohner waren vor dem Unwetter in ihre Bretterbuden geflüchtet. So blieben die beiden gänzlich unbehelligt. Trotz des Schnees, der ihnen in die Augen peitschte, fiel es ihnen nicht schwer, den Weg zum Hause des Henkers zu finden, denn der hochaufgerichtete Galgen war selbst bei dieser Witterung unübersehbar.
»Ich könnte mich ohrfeigen, dass wir nicht schon früher hierher aufgebrochen sind«, hallte Annas Stimme durch den Sturm. »Aber ich hatte darauf gehofft, die Büttel würden uns begleiten. Feiges Pack!«
Florian, der die ganze Zeit schweigend und angespannt neben ihr hergeritten war, grummelte vorwurfsvoll: »Warum hast du mir nicht früher gesagt, dass eine Spur zum Henker führt? Du weißt doch schon seit der Hinrichtung von Katharinas Vater davon! Wir hätten Meister Hans längst schon aufsuchen können.«
»Im Wirrwarr der letzten Tage habe ich einfach nicht mehr daran gedacht«, verteidigte sich Anna zerknirscht. »Und es ist ja auch nicht mehr als ein Anhaltspunkt. Vielleicht hat das ja alles mit Stefenelli gar nichts zu tun, und unser Besuch ist vergebens.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Florian erbost und tastete nach dem Schaft des Messers, das er am Gürtel trug. »Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«
Anna schaute ihn betroffen an. »Du meinst, Katharina könnte dort sein?«
»Ja«, entgegnete er kehlig. »Hoffentlich ist sie noch am
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