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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Großes erschaffen.
    Der Anblick des Blauen Planeten schlug Leo in seinen Bann. Es war ein atemberaubender Saphir auf schwarzem Samt. Nie hatte er das »Raumschiff Erde« als so verletzlich empfunden wie in diesem Augenblick. Schade, dass er es zerstören musste …

    Er stutzte. War das sein Auftrag? Er konnte sich nicht mehr genau erinnern.
    Aus einem vagen Gefühl heraus blickte er in seine rechte Hand. Dass ihm als Mond menschliche Gliedmaßen anhafteten, die obendrein frei beweglich waren, nahm er ohne das geringste Befremden hin. Im Traum hält man das Unmögliche für völlig normal. Im Traum ist jeder ein Narr. Hatte der gute Dalmud das gesagt?
    Das Symbol in Leos Handfläche war ein gezackter Stern mit einem Schweif. Ein Komet!
    Sein Blick kehrte zur Erde zurück. In sein aufklarendes Bewusstsein sickerte die Erkenntnis, dass er kein Mond war. Er lag nach wie vor im Traumlabor, den Kopf unter einer Kappe, die sein Gehirn grillen konnte. Nur sein Traum-Ich flog durchs All.
    Mit dieser Einsicht glitt Leo vollends in die Luzide. Er hatte endlich die uneingeschränkte Kontrolle über sein Handeln und spürte die Energie, die ihn wie pulsierendes Blut durchströmte. Sie wuchs mit jedem Herzschlag. Hoffentlich war sein Wille stärker als diese ungeheure Kraft.
    Vor den Blauen Planeten schob sich eine gleißende Scheibe. Es war der echte Mond. Für einen wahrhaft mächtigen Traumwandler gibt es keine Mauern, keine Türen, keine Entfernungen … er kann überallhin gehen. Leo vermochte sich nicht zu entsinnen, wann und wo er diese Worte gehört hatte. Er war schon zu weit von den Erinnerungen des Jungen im Traumlabor entfernt. Sein Traum-Ich hatte eine neue Gestalt angenommen.
    Und es veränderte sich immer noch. Es glich nun einer riesigen, flachen Kartoffel und bestand aus Trockeneis, gefrorenem Wasser, anderen flüchtigen Substanzen sowie aus Staub und Steinen. Leo bemerkte auf der Mondoberfläche seinen unförmigen, sich aufblähenden Schatten – sein Knollenkörper wuchs rasend
schnell. Er fühlte sich wie ein praller Ballon, in den mit großem Druck heißes Gas gepresst wurde. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.
    Er verlangsamte das Wachstum, bis es endgültig zum Stillstand kam. Jetzt war er exakt vierhundert Kilometer breit, knapp einhundertsiebenundsechzig hoch und fünfhundert Kilometer lang. Das Zahlenverhältnis dieser Dimensionen – 12 : 5 : 15 – entsprach genau den Positionen der Buchstaben »LEO« im Alphabet. Wie bei Künstlern üblich hatte er dem Brocken aus Schmutz und Eis auf diese Weise seine Signatur verpasst.
    Der letzte Teil der Metamorphose vollzog sich fast wie von selbst. Ein Doppelschweif aus Gas und mikroskopisch kleinen Staubteilchen bildete sich. Der von der Sonne ausgehende Strahlendruck und der Sternwind bliesen die zwei leuchtenden Fahnen in Richtung Mond und Erde. Bald würden sie Millionen von Kilometern darüber hinaus in den Weltraum reichen.
    Das Traum-Ich hatte sich in den Kometen Leo verwandelt, zu einer Ehrfurcht einflößenden Lichterscheinung am Himmel. Die wenigsten Menschen wussten, dass der Kern eines Schweifsterns mit zu dem Finstersten gehörte, das es im Universum gab. Das Herz des Globalen Killers reflektierte nur etwa halb so viel Licht wie Asphalt. Es war so schwarz wie der Tod.
    Leo vermochte das nach wie vor zunehmende Spannungsgefühl kaum noch zu ertragen. Er glaubte zerbersten zu müssen, wenn er sich nicht sofort von seiner gigantischen Traumgeburt abnabelte. Doch das war leichter gedacht als getan. Sein Traum-Ich klebte daran fest.
    Ihm wurde heiß, heißer als es bei einem Klumpen Eis möglich erschien. Jemand schrie. Sein Bewusstsein brauchte einen Moment, bis er die eigene Stimme erkannte. Der Komet geriet ins Taumeln. Plötzlich riss die Verbindung ab.

    Wie ein Gummiband, das sich unvermittelt von einer Befestigung löste, schnellte Leo durchs All. Seine monströse Schöpfung schien zu schrumpfen. Er zischte am Mond vorbei. Die Erde stürzte auf ihn zu. Und dann war er wieder im Traumlabor.
    »Wach auf, Junge!«, rief Okumus. Er schüttelte den Oneironauten, damit er zu sich kam.
    Leo meinte immer noch, sein Kopf müsse zerplatzen. Er schlug mühsam die Augen auf und starrte, stumm wie ein Fisch, in das verschwommene Gesicht des Lehrers.
    »Um Himmels willen!«, keuchte Okumus. »Bist du in Ordnung? Sag doch etwas!«
    »Ich glaube, sie haben mir den Grips versengt.« Leo schnüffelte. Ein unangenehmer Geruch biss ihm in die Nase. »Oder was

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