Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Gegenwehr ist. In den letzten Wochen der Annäherung an die Erde habe er für die Beobachtung sehr ungünstig in der Abenddämmerung gestanden. Leo war überrascht, den eigenen Namen aus dem Mund dieses wichtigen Mannes zu hören. »Ohne die Wachsamkeit eines deutschen Schülers wüssten wir womöglich immer noch nichts von dem drohenden Unheil. Wir verdanken Leo Leonidas aus Hamburg die Entdeckung des Kometen, der nach ihm benannt wurde.«
Im Folgenden sprach der Präsident von den Anstrengungen der Völkergemeinschaft, wenigstens einen kleinen Teil der
Kulturgüter der Menschheit zu retten. »Für das, was nach uns kommt. Was immer und wann immer es sein wird.«
Der Schluss seiner Ausführungen war ein eindringlicher Appell an die Menschlichkeit. Man werde solange wie möglich Recht und Ordnung aufrechterhalten. Die Staatsorgane gingen mit aller Härte gegen Plünderer vor. »Lassen Sie uns in den letzten Stunden unserer Existenz nicht zu Tieren werden. Das sind wir Gott und der eigenen Menschenwürde schuldig. Halten wir an den Werten fest, auf die wir zu Recht stolz sind – Generationen haben vor uns dafür gekämpft und sind dafür gestorben. Nutzen wir die verbleibende Zeit, um in uns zu gehen, um mit jenen Frieden zu schließen, denen wir aus belanglosen Gründen zürnen, und um uns von unseren Lieben zu verabschieden. Möge Gott uns gnädig sein.«
Den letzten Worten des Staatsoberhauptes schloss sich eine Sondersendung an, in der Moderatoren und Experten die Situation genauer beschrieben, analysierten und alle möglichen Ratschläge gaben. Obwohl der Beamer nach wie vor die Fernsehbilder auf die Leinwand warf, hatte Leo innerlich abgeschaltet. Nach einer Weile wandte er sich Okumus zu.
»Sind wir zu weit gegangen?«
Der Lehrer atmete tief ein und wieder aus. »Hatten wir denn eine Wahl? Wenn Illúsion stirbt, dann stirbt die Welt. Mit der Illusion von ihrem nahen Ende können wir sie vielleicht noch retten.«
»Mir wird übel bei der Vorstellung, dass Tausende sich umbringen könnten, weil sie den Einschlag des Kometen nicht abwarten wollen.«
»Das klingt für dich jetzt bestimmt zynisch, aber ich denke, es werden weniger sein als du glaubst. Die Menschen hängen viel zu sehr am Leben. Der Präsident hat von ›derzeitigen Berechnungen‹
gesprochen. Das lässt die Möglichkeit eines Irrtums offen. Deshalb werden sich wohl die meisten bis zuletzt an die Hoffnung auf ein Wunder klammern.«
»Na ja, vielleicht können wir dem Spuk schnell ein Ende machen. Die Nachricht dürfte sich wie ein Lauffeuer ausbreiten.«
»Und je mehr Menschen davon erfahren, desto weniger werden noch Schlaf finden. Ich schätze, der König wird schon in ein paar Stunden den anschwellenden Strom an Traumenergie spüren.«
»Hoffentlich brennt ihm die Birne durch«, brummte Leo und seufzte. »Ich weiß, dadurch würde Illúsion auch nicht sichtbar werden. Einerseits geht mir die Muffe, wenn ich an den Kampf mit Refi Zul denke, auf der anderen Seite wünschte ich, sein Angriff käme sofort.«
»Das ist unwahrscheinlich. Außerhalb seines Reiches verfügt er vermutlich nur über eine kleine Zahl von Kriegern. Es kostet Zeit und Kraft, eine neue Armee aus Traumgeborenen zu erschaffen.«
»Viel Zeit hat er nicht mehr.«
Okumus nickte mit grimmiger Miene. »Darin liegt unsere Chance.«
»Und wenn wir scheitern?«
»Dann ist alles verloren.«
N ie hatte es in einem Schloss, das den baldigen Ansturm feindlicher Krieger erwartete, derart viele Schläfer gegeben. Dennoch waren die Nerven jedes Einzelnen in der Traumakademie so angespannt, dass man die Konfrontation mit Refi Zul geradezu herbeisehnte. Es war Dienstagabend und der König von Illúsion hatte immer noch nicht angegriffen.
Leo fühlte sich besonders schlecht. Seit der Erschaffung des Kometen vor drei Tagen hatte er so gut wie nicht geschlafen. Er kam sich vor, als läge er auf einer Streckbank in einer Folterkammer. In Wirklichkeit ruhte sein Körper auf weichen Matratzen in einem unterirdischen Gewölbe, das ausschließlich seinem Schutz diente. Der Raum war nur ein paar Dutzend Schritte vom Traumtor entfernt.
Gerade hatte ihn die Erschöpfung übermannt. Endlich! Sein Geist fand trotzdem keine Ruhe; wie von selbst glitt er in die Luzide. Die Energieturbulenzen vor der Drusenkammer verstärkten Leos desolaten Zustand noch. Sie plagten ihn wie keinen Zweiten in der Traumakademie. Orla hatte recht gehabt: Er war Refi Zul ähnlicher, als ihm lieb sein konnte.
So
Weitere Kostenlose Bücher