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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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wie er hatte seit der offiziellen Bekanntgabe des Weltuntergangstermins am Sonntag die Mehrzahl der Weltbevölkerung kein Auge zugetan. Entsprechend groß war die Menge ungeträumter
Träume, die sich vor den verstopften Traumtoren rund um den Globus aufstaute. Leo spürte diesen Druck vor allem im Kopf und als unangenehmes Ziehen im ganzen Körper.
    Der Schlaf verschaffte ihm Erleichterung, weil er die Qualen des Leibes endlich hinter sich lassen konnte. Geradezu übermütig verließ sein Traum-Ich das düstere Versteck. Dort unten sei er am sichersten, hatte Okumus gesagt. »Stell dir vor, was mit deinem Kometen und der Welt geschähe, sofern dir etwas in der Entscheidungsschlacht zustieße.«
    Auf das Argument hatte Leo wenig zu erwidern gewusst. Nur eines: »Sollte der König bis zur Drusenkammer durchbrechen, stünde ich ihm allein gegenüber.«
    »Wenn jemand Refi Zul trotzen kann, dann du«, hatte der Ordinarius erwidert. »Außerdem lassen wir dich nicht allein. Deine Mitschüler bewundern dich. Jeder würde sich einen Arm für dich ausreißen, von mir ganz zu schweigen. Wir werden die letzte Schlacht Seite an Seite kämpfen.« Die beiden waren in den vergangenen Tagen Freunde geworden.
    »Ich wünschte, du könntest gleich hierbleiben, Osmund.«
    »Die Verteidigung des Schlosses erlaubt das leider nicht. Komm doch einfach mit deinem Traum-Ich zu mir, wenn du schläfst. Dann bist du unverwundbar.«
    Genau diesem Rat folgte Leo jetzt. Während sein erschöpfter Körper in unmittelbarer Nähe zur Drusenkammer schlief, glitt sein Traum-Ich durch das alte Gemäuer nach oben. Hoffentlich brachte diese Nacht die Entscheidung. Falls nicht, das hatte er seinen Freunden versprochen, werde er sich bei Sonnenaufgang unter eine DreamCap legen und den Kometen auflösen.
    Seit die Führer der Welt den Untergang der Menschheit vorausgesagt hatten, war nichts mehr wie zuvor. Anfangs hatte es einen globalen Aufschrei des Entsetzens gegeben. Überraschenderweise
war bald darauf eine Phase der Beruhigung eingetreten. Der Schock hatte die Menschen gelähmt. Viele blieben erstaunlich gefasst. Mancher lebte sein Leben einfach weiter, weil er es so gewohnt war. Einige hatten sich für den Rest ihrer Zeit auf Erden Urlaub genommen.
    Gewaltsame Übergriffe blieben die Ausnahme. Wer weiß, dass es ihn spätestens am nächsten Donnerstag nicht mehr gibt, der braucht andere nicht auszuplündern oder nach Macht und Ansehen zu gieren. Er verliert auch das Interesse an einer Karriere. Die modernen Ideale – Erfolg, Reichtum, Schönheit und Ruhm – verkommen zu bloßem Kehricht. Und so besann sich mancher auf die alten Werte: Menschlichkeit, Nächstenliebe, gemeinsame Zeit mit der Familie, Gespräche mit Freunden. Nicht wenige hatten wieder zu beten begonnen.
    Auf der Suche nach Okumus strich Leo eine Weile durch das Internat. Als Erstes schaute er im ehemaligen Speisesaal der Mönche nach, den man in eine Kommandozentrale umfunktioniert und dem Zeitgeist entsprechend »Traum-Chat« getauft hatte. Hier liefen alle Lagemeldungen zusammen. Einige Schüler saßen an Computern und überwachten die rund um das Schloss angebrachten Kameras und Bewegungsmelder. Theresa und Lena verfolgten die internationale Nachrichtenlage. Auch die Traum-Ichs etlicher Schläfer schwebten durch den Raum. Wer nicht gerade draußen patrouillierte, nutzte das Traum-Chat zum Gedankenaustausch – daher der Name.
    Weil Leo im Refektorium nicht fündig wurde, setzte er seine Suche im Traumlabor fort. Dort lagen die schlafenden Traumschmiede wie die Sardinen in der Büchse. Der Generalfeldmarschall – so Okumus’ neuer Spitzname – hatte zusätzliche Pritschen aufstellen lassen, damit im Ernstfall sechzig Oneironauten gleichzeitig an die DreamCaps angeschlossen werden
konnten. Inzwischen galt der höchste Verteidigungsbereitschaftszustand und der Raum war voll besetzt. Nur vom Kommandeur der Schläfertruppe fehlte jede Spur.
    Leo streifte durch die Flügel, wo er auf weitere Kampfgenossen stieß, die sich mit Unterstützung pflanzlicher Wirkstoffe in der Luzide hielten. Nur eine Handvoll der im Haus verteilten Mitstreiter waren Traumwandler wie er. Um die Umgebung des Schlosses zu beobachten oder vorbereitete Träume aus den DreamCaps abzurufen, reichten ihre Fähigkeiten aber aus. Neben den Spähern gab es neun Schlafverwandler, deren Traum-Ichs er im Chatroom gesehen hatte. Auf ihnen würde im Ernstfall die Hauptlast der Verteidigung liegen. Unverrichteter

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