Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Dinge zog sich Leo aus dem Trakt mit den Schülerzimmern zurück. Allmählich machte er sich Sorgen um seinen älteren Freund.
Der rastlose Schläfer durchstieß das Dach, um in den vorgelagerten Gebäuden nach dem Generalfeldmarschall zu suchen. Eine lange Reihe schlafender Tauben hockte dicht gedrängt auf dem First. Waren die Vögel so eng zusammengerückt, weil sie eine Gefahr spürten? Oder wollten sie sich nur gegenseitig wärmen?
Auf den ersten Blick bot die idyllische Landschaft unterhalb des alten Klosterbaus einen friedlichen Anblick. Vom Himmel ließ sich das nicht unbedingt behaupten. Vor einer Stunde waren die drei wichtigsten Gestirne untergegangen: Sonne, Mond und Leo . Ein unheimliches Glühen erhellte das nächtliche Firmament. Es war der Schweif, der dem Kometen vorauseilte. In der Umgebung des Schlosses herrschte gespenstische Stille.
Die Ruhe gefiel Leo nicht. Sie war so unnatürlich wie neulich im Krater des Puakatike. Der Feuerwald hatte aus Furcht vor einer dunklen Macht geschwiegen. Walteten hier insgeheim ähnlich unheilvolle Kräfte?
Okumus hatte seine Kundschafter gelehrt, wie man aus erhöhter Warte in alle Richtungen gleichzeitig spähte. Genau das tat Leo jetzt. Dabei kam ihm in den Sinn, was Orla über das illúsische Königssymbol gesagt hatte. Jedes dieser Zeichen ist wie ein Schlüsselloch, durch das Refi Zul hindurchsehen kann. Sobald du das verinnerlicht hast, wird dir das Gleiche möglich sein. Hatte er deshalb im Feuerwald wie von selbst die Vogel-Augen-Tätowierung am Hals des Hyänenschweins getroffen?
Mit einem Mal kam ihm eine Idee. Auch bei anderen Wächtern waren ihm die Tattoos aufgefallen. Hatte Refi Zul womöglich allen seinen Schergen das Zeichen in die Haut gestochen, um sie unter Kontrolle zu behalten? Sogar Benno war ihm durch die Macht eines vermeintlich harmlosen Kettenanhängers zu Diensten gewesen. Leos Traum-Ich lächelte. Vielleicht konnte er den Gegner ja mit seinen eigenen Waffen schlagen.
Rasch erschuf er im Geist ein Abbild des Königssymbols. Dabei ging er sehr behutsam vor, um seine Gedanken vor dem unsichtbaren Feind zu verbergen. Er formte zunächst nur verschwommene Linien, denen er nach und nach die Konturen von Dreieck, Kreis und Vogel-Auge verlieh. Dann ließ er etwas von der Traumenergie, die ihn durchströmte, in das Gedankenbild fließen.
Plötzlich sah er das Gesicht Robert Zakis so nahe vor sich, dass er meinte, ihre Nasen müssten sich berühren.
Tief unten im Schloss schrie Leo im Schlaf erschrocken auf. Sein Traum-Ich war unfähig, irgendwelche Geräusche zu verursachen und zuckte nur ein wenig zurück.
Er spürte deutlich, dass der König sich im Wald versteckt hielt. Mühelos fand Leo andere Vogel-Augen. Sie flogen ihm förmlich zu. Es waren Hunderte. Einen neuen Blickwinkel einzunehmen, war so einfach wie das Anheben eines weiteren Lids.
Während er sich so von der ursprünglichen Stelle fortbewegte, bekam er verschiedene Plätze in der Umgebung des Schlosses zu Gesicht: den Garten im Nordosten und den Hofgarten im Südosten. Ihn schwindelte von all den Bildern. Es dauerte eine Weile, bis sein Traum-Ich sich darauf einstellte, aus tausend Augen gleichzeitig zu sehen.
Sie zeigten ihm eine in drei Trupps unterteilte Armee von schwer bewaffneten Hyänenschweinen. Die Kreaturen hatten Streitäxte, Schwerter und Speere. Sie waren nervös, erwarteten unruhig den Angriffsbefehl.
Leos Aufmerksamkeit kehrte zum Ausgangspunkt im Forst zurück. Von hinten sah er kurz eine breitschultrige, nicht sehr große Gestalt im Regenmantel. Der Unbekannte hielt jemanden fest, der sich wehrte, den Leo aber nicht zu erkennen vermochte. Wer war das?
Sein Blickwinkel veränderte sich und abermals erschien der Herrscher von Illúsion. Ein gutes Dutzend Augen war auf ihn gerichtet. Refi Zul trug denselben glitzernden Umhang aus Kristallfäden, mit dem er im Haus des Illúsischen Rates das Traumtor durchschritten hatte. Ein seltsamer Schimmer umgab ihn. War das die Aura der Traumenergie, die den König durchströmte? Offenbar führte er sein Heer als Traumwandler an, schlief also stehenden Fußes. Er schritt vor der halb verfallenen Mühle auf und ab und schnüffelte wie ein Hund.
»Kretis’ Tochter war hier«, sagte er.
»Ihr meint, sie lebt?«, fragte die knirschende Stimme eines Traumgeborenen. »In der Nachricht aus Illúsion hieß es, sie sei beim Einsturz des großen Kristalls getötet worden.«
»Davon gehen wir auch weiterhin aus. Solange wir
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