Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Hausmeister tauchte ständig irgendwo auf, oft mit seinem Werkzeugkasten – in einem neunhundert Jahre alten Gemäuer gab es immer etwas zu reparieren.
Im Zwielicht erschien ein Schemen. Das war eindeutig nicht Mark. Von der kräftigen Statur her könnte es eher Okumus sein. Er überquerte lautlos den Korridor. Beinahe schien es Leo, als schwebe die Gestalt. Ihn schauderte. Bei all dem Traummüll, den er in letzter Zeit eingesammelt hatte, fehlte ihm nur noch ein Schlossgeist. Sollte er den Pokal einfach auf der Fensterbank stehen lassen und sich aus dem Staub machen? Nein, besser nicht. Wenn der »Schlossgeist« ihn erkannt hatte, wäre er geliefert.
Als sich im Gang nichts mehr rührte, lief Leo weiter. Unbehelligt erreichte er die rechteckige Eingangshalle. Die Vitrine war zum Glück unverschlossen. Er öffnete die Glastür, stellte die im Kasten aufgebauten Trophäen um und platzierte den Schulpokal genau in die Mitte. Das Arrangement gefiel ihm. Zufrieden schloss er die Tür und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als er am anderen Ende der Halle Orla Flaith bemerkte.
Er meinte, sein Herz würde mehrere Schläge lang aussetzen. Fast hätte er laut geschrien. War Vollmond oder was? Anscheinend dachte in dieser Nacht niemand ans Schlafen. Orla schaute ihn schweigend und mit ausdrucksloser Miene an. Oder fixierten ihre grünen Augen den Pokal, den er mit seinem Körper verdeckte? Das allein war schon erschreckend genug. Was ihm aber eine Heidenangst einjagte, war ihre Durchsichtigkeit.
Unvermittelt richtete sich Orlas Blick direkt auf sein Gesicht. Leo erschauderte. Ihr Mund verzog sich zu einem geheimnisvollen,
wissenden Lächeln. Kein Wort kam über ihre Lippen. Sie schien unfähig, in diesem Zustand überhaupt irgendwelche Geräusche zu machen. Wie bereits bei der alten Wassermühle drehte sie sich unversehens um und ging einfach davon.
Mitten durch die Wand.
Leo sah auf seinen Arm herab. Er hatte die Haut einer frisch gerupften Gans – sämtliche Härchen standen senkrecht in die Höhe. Träumte er noch?
Okumus hatte ihnen eine simple Methode beigebracht, um festzustellen, ob man sich in der Schlaf- oder der Wachwelt befand. Leo hielt sich die Nase zu, schloss den Mund und versuchte auszuatmen. In einem Klartraum war das ohne Weiteres möglich. Bei ihm blähten sich nur die Backen. Er war also wach.
Aber was hatte er dann gerade gesehen? Eine Halluzination? Ein Nachhall seines Nixentraumes? Er hoffte nur, die transparente Orla verriet nicht ihrer undurchsichtigen Zwillingsschwester, was sie beobachtet hatte. Die Idee mit dem Pokal in der Trophäensammlung war wohl eher suboptimal gewesen. Er hätte das Ding einfach über den Jordan schmeißen sollen. Leo seufzte. Besser gesagt, in den Bodensee.
Der Unterricht an diesem Morgen umfächelte Leos Geist wie eine laue Brise. Ganz angenehm und nicht wirklich störend für seine ornithologischen Beobachtungen. Das Mädchen, dessen wirr vom Kopf abstehende Haarsträhnen den Federn eines Raben so ähnlich sahen, hatte ihn beim Betreten des Klassenraumes keines Blickes gewürdigt.
Er wusste selbst nicht, was genau er von Orla erwartete. Sollte sie sich in Luft auflösen oder plötzlich zu schweben beginnen? Sie tat nichts von alledem. Nur gerade eben hatte sie sich verstohlen zu ihm umgedreht und ihm einen Blick zugeworfen. Da
sah er ihn wieder, diesen wissenden Ausdruck in ihren hypnotischen Augen.
Der erste Neunzig-Minuten-Block des Dienstags war dem Fach Traumkunst gewidmet, das Fiona Clarke unterrichtete, eine junge, vergeistigte Lehrerin aus Kanada, die Theresas große Schwester hätte sein können und Leo wie eine Schlafwandlerin vorkam. Benno himmelte sie an und nannte sie liebevoll »meine Bettie« – er schwärmte für hübsche Blondinen, die ihn um mindestens einen halben Kopf überragten.
Die Lehrerin erzählte etwas über die Surrealisten in der bildenden Kunst und ihr Streben nach einer in Traumbildern verhafteten Formsprache. Mit Sätzen wie »In der Malerei gehört die Pittura metafisica mit ihrer verfremdeten Dingwirklichkeit zu den wichtigsten Voraussetzungen des Surrealismus« schaffte sie es, die meisten Schüler in einen schlafähnlichen Dämmerzustand zu versetzen. Nur Benno blieb hellwach. Leo hing Tagträumen nach, in denen Orla eine nicht unerhebliche Rolle spielte.
Diese Phase süßen Dahindösens endete jäh, als Okumus mit seinem obligatorischen »Salve, Oneironauten!« das Klassenzimmer betrat. Seine Hand umklammerte
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