Das Geheimnis der versteinerten Traeume
einen Henkel des DreamTeam-Silberpokals, so als trüge er eine Aktentasche. Wenig behutsam ließ er ihn auf den Lehrertisch knallen. Mit versteinerter Miene wandte er sich der Klasse zu. Seine Augen scannten die Gesichter der Schüler ab.
»Wer war das?«
Verständnisloses Gemurmel erfüllte den Raum. Einige sahen sich fragend an, flüsterten oder schüttelten den Kopf.
»Wer hat den Pokal aus dem verschlossenen Tresor des Direktors entwendet und in unsere Trophäensammlung im Foyer gestellt?« , präzisierte der Ordinarius seine Frage.
Dadurch nahm lediglich die Unruhe zu.
»Hast du ’ne Ahnung, was er will?«, raunte Benno.
Leo zog unwillkürlich den Kopf ein.
»Herr Kowalski«, sagte Okumus laut. Wenn er ins Förmliche wechselte, musste man auf der Hut sein. »Kannst du zur Aufklärung des mysteriösen Vorfalls beitragen?«
»Bin ich der Zauderer von Oz?«
»Wärst du ein Zauberer, bräuchtest du hier nicht deine Zeit absitzen. Sei froh, dass du Montag früh schon eine Verabredung im Forst hast.«
Der Blick des Lehrers pendelte sich auf Leo ein. »Wie ist es mit dir?«
»Ich möchte dazu nichts sagen.«
»Das heißt, du weißt etwas?«
»Ich verweigere die Aussage.«
»Wir sind hier nicht vor Gericht, Herr Leonidas.« Okumus drückte das Kreuz durch, verlagerte seine Aufmerksamkeit wieder auf die gesamte Klasse und lächelte. »Schade eigentlich, dass niemand sich zu dem außerordentlichen Coup bekennen will. Die Aufgabenstellung lautete: ›Beschafft euch den Pokal des DreamTeams.‹ Mir wäre nicht im Traum eingefallen, dass jemand von euch das wörtlich nimmt. Meine Hochachtung, du namenloser Oneironaut! Ich hätte dir glatt eine Eins plus gegeben.«
Z uerst war da diese kalte Nässe, die Leo am Mittwochmorgen in die Wachwelt trieb. Er lag auf dem Bauch, bei ihm eher ungewöhnlich. Seine Hand schloss sich um feuchtes Gras. Er brauchte sie nicht zu öffnen und hineinzusehen, um das von einem Kreis und einem Dreieck umrahmte Wassersymbol zu sehen. Außerdem hörte er ja das Plätschern ganz nahe bei seinem Ohr. Letzte Nacht war er schon mit so einem unguten Gefühl ins Bett gegangen. Er öffnete die Augen und drehte den Kopf nach rechts.
Neben ihm lag der Bodensee.
»Bischt du än Geischt?«, fragte plötzlich eine Stimme von links.
Erschrocken wirbelte Leo herum, weg von dem Mann, der ihn offenbar für eine übernatürliche Erscheinung hielt.
Es war ein Bauer, wohl weit über fünfzig, mit blauer Hose und blauer Jacke. Er trug eine Filzmütze, stand leicht vorgebeugt, klammerte sich an einer Mistgabel fest, und betrachtete den Jungen wie einen unzureichend gefesselten Alligator – nicht ohne Neugier, doch jederzeit zur Flucht bereit.
»Ich hoffe nicht«, antwortete Leo bibbernd. »Können Gespenster frieren?«
Davon sei kaum auszugehen, meinte der Mann in schweizerisch
gefärbtem Dialekt. Auf Leos Rückfrage, wie er denn auf eine derartige Idee komme – er sei doch nur ein Jugendlicher in einem klitschnassen Schlafanzug –, behauptete der Bauer, in der Nacht jemanden gesehen zu haben, der übers Wasser herangeschwebt sei. Unweit des Ufers habe die Erscheinung mit einer Nixe getanzt und sei später hier auf der Schweizer Seite an Land gegangen. Als er bei Tagesanbruch hergekommen sei, um genauer nachzusehen, habe er ihn, den Jungen, gefunden. Schlafend.
»Dann bin ich ein Findelkind«, sagte Leo mit schiefem Lächeln. Inzwischen hatte er sich erhoben. Verstohlen blickte er in seine Handfläche. Die vier mit Kugelschreiber aufgemalten Wellenlinien waren noch da. Morgen Nacht werdet ihr im Traum übers Wasser gehen. Ob Okumus ihm diesmal eine Eins plus geben würde, weil er die Hausaufgabe mit Bravour gelöst hatte?
Eigentlich war es Leo egal. Beim Pokal hatte er der Note ja auch nicht nachgetrauert. Beunruhigend fand er aber die zunehmende Häufigkeit und Folgenschwere seiner Traumeskapaden. Dass sie neuerdings im Vierundzwanzig-Stunden-Rhythmus kamen, machte ihm Angst. Verschärfend kam hinzu, dass er nun selbst zum Spielball seiner Träume geworden war. Leo auf der Traummüllhalde. Wo sollte das noch hinführen?
»Jetz chom zerscht ämol und wärm di bi mir uf«, sagte der Bauer. Er deutete die besorgte Miene des Jungen auf seine Weise. »Und i lüt i dä Zwüscheziit dä Polizei ah.«
Die beiden Schweizer Polizisten verzichteten darauf, den Jungen mit aufs Revier zu nehmen. In einer gemütlichen Bauernstube mit Geranienkästen vor den Fenstern führten sie ihre Anhörung
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