Das Geheimnis der versteinerten Traeume
zweiten Mal mit diesem Unwort.
Orla nickte wissend. »Illúsion ist genauso eine Realität, wie es deine Fähigkeiten sind, Leo. Ich denke, du hast in den ersten Tagen hier schon mitbekommen, dass man zum Träumen eine eigene Form der Energie benötigt. Sie speist sich aus unseren Erinnerungen, Gefühlen, der Fantasie und allem, was
die menschliche Seele bewegt. Daher träumen wir ja so oft von diesen Dingen. Refi Zul schöpft diese Kraft ab, ehe sie in die Träume fließen kann. Damit schafft er es, sein Reich vor der restlichen Welt zu verbergen.«
»Mit Traumenergie?«, fragte Leo ungläubig.
Sie nickte. »Früher brauchte er nur ein paar Seefahrer zu täuschen, heute gibt es Satelliten, Radar und was weiß ich für Zeugs, um selbst da noch zu sehen, wo unsere Augen längst versagen. Deshalb ist sein Bedarf an Traumenergie auch so groß. Da kommt YourDream ihm gerade recht. Zakis Firma stiehlt Millionen Menschen den Schlaf.«
»Und woher weißt du das alles?«
»Ich bin die Tochter von Traumgeborenen.«
»Wie bitte?«
»Lemiach, der nach Refi Zul wohl bedeutendste Schlafverwandler, hat meine Eltern aus seinen Träumen in die Wachwelt versetzt. Er ist sozusagen mein Großvater. Der König brachte die beiden später nach Illúsion. Kretis – mein Vater – stieg unter ihm bis zum Ersten Statthalter auf. Er hat, während Zul in der übrigen Welt umherstreifte und der Menschheit den Schlaf raubte, die Geschicke des Reiches gelenkt. Im Laufe der Zeit kam Vater zu der Erkenntnis, dass man die Menschen nicht ausbeuten dürfe, wie es der König seit Jahrhunderten tat. Ohne ihre Träume werden sie krank. Und wenn die Seele verdorrt, stirbt die Fantasie. Die Liebe erkaltet. Alle Quellen, aus denen Traumenergie rinnt, versiegen. Das würde über kurz oder lang auch Illúsion austrocknen und zerstören.«
»Klingt einleuchtend«, sagte Leo. Eine Wahnsinnsgeschichte, dachte er. Ihn beunruhigte nur, dass Orla das Ganze für wahr zu halten schien.
»Der König tat so, als fände er die Argumente meines Vaters
vernünftig«, fuhr sie fort. »Er bat ihn und meine Mutter Serina um ein Treffen im Haus des Illúsischen Rates . Die zwei sind nie mehr heimgekehrt …«
»Willst du damit andeuten …?« Leo riss die Augen auf.
Sie nickte. »Zul muss sie umgebracht haben. Damals war ich fünf. Der gute Dalmud, ein weiser alter Mann und Freund meiner Eltern, hat mich wie eine Tochter bei sich aufgenommen. Er sagte, Kretis habe den Unsichtbaren Kreis ins Leben gerufen. Das sei eine geheime Bruderschaft, die den Kampf meines Vaters fortsetzen sollte, falls ihm etwas zustieße.«
»Du meinst, er hat etwas von Zuls Mordplänen geahnt?«
»Ja. Später hat mich Onkel Dalmud aus Illúsion herausgeschafft. Dort sei ich nicht länger sicher, meinte er. Von ihm erfuhr ich, dass Traumgeborene normalerweise kinderlos sind. Ich war und bin wohl immer noch die Erste meiner Art. Daher fürchte und hasse mich Zul und trachte mir nach dem Leben, sagte Dalmud.«
Leo reckte unbehaglich den Hals. Er war im Zwiespalt. In den betörenden Augen des Mädchens sah er Gefühle, die unmöglich nur vorgetäuscht sein konnten. Vielleicht litt sie an einer Geisteskrankheit und hielt ihre Geschichte für wahr. Als er sich noch selbst für einen Psychopathen gehalten und viel darüber im Internet nachgelesen hatte, war er auf eine Website über Psychosen gestoßen. Da stand, dass manche Menschen mit »abnormen Persönlichkeiten« Anfälle bekämen, wenn man sie unsanft mit der Wahrheit konfrontiere. Für sie sei ihre Scheinwelt die einzige Wirklichkeit und alles andere werde als bedrohlich empfunden. Er wollte nicht, dass Orla ausrastete. Deshalb ging er zum Schein auf sie ein.
»Wie schafft es dieser Refi Zul, so alt zu werden?«
»Er ist ein Traumwandler so wie du«, erklärte sie. »Vor langer
Zeit hat er zu den siebzig Wächtern gehört, die über eine Insel mitten im Pazifik herrschten. Wegen seiner besonderen Begabung wuchs seine Macht. Bald nahm er unter ihnen die Stellung eines Primus inter Pares ein, des Ersten unter Gleichen. Mit der Kraft ungeträumter Träume vergrößerte er das Reich der Siebzig. So entstand um das Herzland herum der Ringkontinent Illúsion …«
»Moment, Moment!«, unterbrach Leo sie. »Du hast vorhin gesagt, Timaios sei der Schöpfer von Illúsion gewesen.«
»Das ist richtig. So hieß er ursprünglich. Er fühlte sich ja nicht von Anfang an zum Demiurgen – zum Weltenschöpfer – berufen. In seinen früheren
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