Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Weltuntergangsmeldung
verbreiten lassen, nur um ihnen den Schlaf zu rauben.«
»Den Schlaf rauben?«, murmelte Leo. »Wie soll das gehen? Früher gab’s doch noch keine DreamCaps.«
»Kennst du Homer?«
»Ich bin zu fünfzig Prozent Grieche«, gab sich Leo empört. »Na klar kenn ich Homeros, den ältesten Dichter des Abendlandes.«
»Von ihm stammen die Worte, die Dabelstein in seiner Begrüßungsrede zitierte: ›Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes.‹ Vielleicht kannte der Poet ja Timaios – immerhin waren es die Hellenen, die uns seinen Namen überliefert haben.«
»Und das hilft mir jetzt zu verstehen, wie man Schlaf klauen kann?«
Orla stöhnte. »Von der schnellen Truppe bist du nicht gerade, was? Im Schlaf steckt die Kraft der Erneuerung. Was verrät uns das?«
Er verzog das Gesicht. »Dass man nie vor zehn aufstehen soll?«
»Kannst du auch mal ernst sein?« Sie funkelte ihn wütend an.
»Entschuldige.«
Orla atmete geräuschvoll aus. »Hast du dich je nach dem Erwachen wie neu geboren gefühlt?«
»Kann schon sein.«
»Jeder kennt dieses Gefühl. Der Schlaf ist eine der ergiebigsten Lebensquellen überhaupt, Leo. Deshalb ist Traumenergie pure Vitalität. So was wie die Stammzellen des Lebens: Alles kann aus ihr entstehen. Und Refi Zul beutet sie gnadenlos aus. Für ihn sind die Menschen nur Mittel zum Zweck. Wenn sie auf Schlaf verzichten, den sie eigentlich bräuchten, dann geht die ihm innewohnende Traumenergie nicht verloren. Das lehrt ja
schon der erste Hauptsatz der Thermodynamik: Energie kann weder erzeugt noch vernichtet, sondern nur in andere Energiearten umgewandelt werden.«
»Physik ist nicht gerade mein Lieblingsfach.«
»Das habe ich befürchtet.«
»Gibt es Akkus, in denen sich der Traumsaft speichern lässt?«
Ihr Blick bohrte sich in den seinen, als müsse sie die Ernsthaftigkeit seiner Frage erst prüfen. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist wie mit dem Licht: Du kannst es nicht lagern, nur benutzen – sinnvoll oder auf zerstörerische Weise. Das aus dem Schlaf gewonnene Potenzial wird in reine Schaffenskraft umgewandelt und nach Illúsion umgeleitet. Dort sprudelt es aus den Traumquellen.«
»Lässt sich das Quellwasser nicht sammeln?«
»Hast du je versucht, mit einer Taschenlampe in einen Eimer zu leuchten und das Licht einzufangen, indem du ihn schnell zudeckst?«
»Ja. Ist schon ’ne Weile her. Der Eimer war ’ne Kiste. Hat nicht geklappt.«
»Siehst du! Und genauso ist es mit dem Traumwasser: Sobald es zur Ruhe kommt, erlischt seine Kraft. Es löst sich auf.«
»Und Refi Zul zapft es an?«
»Genau. Im Laufe der letzten Jahrhunderte hat er immer mehr Energie dafür aufwenden müssen, Illúsion vor der übrigen Welt zu verbergen. Dadurch verliert das Land, das er aus den ungeträumten Träumen erschaffen hat, an Festigkeit. Es wird mürbe und versinkt im Meer.«
»Jetzt verstehe ich, warum dem Heilspropheten die Jünger weglaufen. Das stinkt natürlich vielen, oder?«
»Stell dir vor, dein Zuhause zerbröselt unter deinen Füßen wie trockener Kuchen.«
»Lieber nicht.«
»Gäbe es in Illúsion Meinungsumfragen, würden Refi Zuls Werte in den Keller rauschen. Wegen der jahrhundertelangen Isolation leben die Menschen dort noch wie im Mittelalter. Die meisten kuschen nach wie vor, wenn der König seine Wächter schickt. Sie haben nichts mit den neunundsechzig Altvorderen zu tun, die er versteinert hat. Es sind überwiegend Traumgeborene, unangenehme Kreaturen, denen du nicht mal bei Tageslicht begegnen willst. Trotzdem suchen einige aufrechte Landsleute von mir einen Weg, Zul zu entmachten und das Reich der ungeträumten Träume wieder sichtbar werden zu lassen. So könnte es alle Kraft, die es auf natürlichem Weg von der Menschheit bezieht, für seinen Erhalt aufwenden. Wie gesagt, solche Bestrebungen sind Zul ein Dorn im Auge. Er jagt die Aufrührer des Unsichtbaren Kreises und bringt jeden um, den er zu fassen kriegt. Es ist, als hätte er mit dem Mord an meinen Eltern auch sein eigenes Gewissen abgetötet, so skrupellos geht er vor. Ich werde nicht ruhen, ehe er zur Rechenschaft gezogen wird.«
»Scheint ja ein echter Kotzbrocken zu sein, dieser Refi Zul«, sagte Leo, um Orla sein Mitgefühl auszusprechen. Sie tat ihm leid. Er konnte ihr ansehen, dass diese bizarre Geschichte für sie Realität war. Der bittere Ton, in dem sie zuletzt gesprochen hatte, brachte sein Blut in Wallung. Sie schaffte es tatsächlich, in ihm Hass auf eine
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