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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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diskutierte, hörte Musik oder tat, wozu man sonst Lust hatte. Der machthungrige Mark Laurel kontrollierte nur selten, wer wann wo was tat.
    Unweit der Einflusssphäre des eifersüchtigen Jungdiktators, also ebenfalls im Westflügel, lag der zweigeschossige Bibliothekssaal. Leo hatte keinen blassen Schimmer, warum Orla ihn ausgerechnet dort sprechen wollte. Der Zutritt ohne Aufsichtsperson war Schülern streng untersagt.
    Vor der weißen, mit Zierleisten besetzten Rundbogentür wartete sie jedenfalls nicht auf ihn. Und was nun? Sie hatte ausdrücklich geschrieben, sie wolle sich mit ihm »in der Klosterbibliothek« treffen. Nein, genau genommen stand in der Mitteilung nichts vom Zweck der Vorladung – so empfand Leo die Nachricht, wohl wegen der ruppigen Zustellung.
    Lustlos drückte er die Klinke herab, zog und war überrascht,
als sich die Tür öffnen ließ. In der Bibliothek brannte Licht. Er drehte sich noch einmal um. Der überwölbte Gang hinter ihm war leer. Von Schlossgespenstern keine Spur. Aus der Ferne erscholl Gelächter. Er huschte in den Saal.
    Nachdem er die Tür geschlossen hatte, wich die Beklommenheit und seine Neugierde erwachte. Fasziniert trat er unter den Kronleuchter in der Mitte des Raumes.
    Ein umlaufender Wandelgang in etwa drei Metern Höhe unterteilte den Bibliothekssaal in ein Oben und ein Unten. Die Einrichtung musste aus dem 19. Jahrhundert stammen – klassizistisch nannte man wohl die Stilrichtung. Ein riesiger Globus und einige Möbel, die bestimmt noch ohne Sechskant und Bastelbogen zusammengebaut worden waren, standen auf dem Parkettboden. Die gewölbte Decke zierten Stuckornamente. Vereinzelt sah Leo an den Wänden farbige Fresken mit Motiven aus dem Alten und Neuen Testament. Soweit zu erkennen, hatte man den Raum irgendwann umdekoriert und den Zyklus zum Teil übermalt. Hier und da pflasterten Porträts von Äbten freie Stellen zu: ernste Mienen, die Mundwinkel von der Last des Amtes nach unten gezogen.
    Das schmückende Beiwerk interessierte ihn nur am Rande. Vor allem begeisterte ihn, was in den Regalen stand. Es gab sicher Fünfzehnjährige, die mehr schmökerten als er, abstinent war er in dieser Hinsicht beileibe nicht. Auf die Frage, ob er eine Leseratte sei, antwortete er gewöhnlich: »Eher eine Lesemaus.«
    Die Schweißtropfen des menschlichen Geistes sind Bücher. Irgendwo hatte er das einmal gelesen. An diesem Ort wurden die Worte für ihn sichtbar, fühlbar – und auch riechbar. Der typische staubig-muffige Geruch alten Papiers hing in der Luft. Mit einem Mal empfand er den Ruf in diesen verbotenen Garten
der Erkenntnis wie ein Geschenk. Was sich die grünäugige Schöne wohl dabei gedacht …?
    »Bist du allein gekommen oder hast du den Feuermelder mitgebracht?«
    Leo zuckte zusammen, sein Blick ruckte nach oben. »Du bist jetzt aber echt, oder?«, keuchte er.
    Orla Flaith stand auf der Galerie, die Unterarme auf das Geländer gestützt und lächelte auf ihn herab. Wie hatte sie es geschafft vorzutreten, ohne von ihm bemerkt zu werden? Die Holzkonstruktion müsste doch bei jedem Schritt knarren.
    »Dann hast du mich in der Eingangshalle also tatsächlich gesehen«, sagte sie in einem lauernden Tonfall, der nicht erkennen ließ, ob ihre Äußerung Frage oder Feststellung war.
    »Du meinst, als ich den Pokal zwischen das andere Blech gestellt habe? Mir ist vielleicht die Muffe gegangen! Warum warst du so … durchsichtig? «
    Sie ging zu einer Wendeltreppe, die beide Geschosse miteinander verband. Auf dem Weg dorthin beobachtete sie ihn aus den Augenwinkeln. Ihre Fingerspitzen strichen leicht übers Geländer. »Es war mein Traumkörper«, antwortete sie.
    »Niemand kann den Traumkörper eines anderen sehen.«
    Orla betrat die Wendeltreppe. »Wer behauptet das?«
    »Okumus.«
    »Richtig. Am Montag hat er darüber gesprochen, oder? Er hat gelogen. Oder er weiß es nicht besser. Einige Schlafverwandler sind durchaus dazu in der Lage, die Traumkörper anderer wahrzunehmen.«
    »Wieso sollte er uns das verschweigen?«
    »So wie er überall herumschnüffelt, würde es mich nicht wundern, wenn er von der Geheimen Schlafpolizei ist. Refi Zul tut alles, um die wahre Natur der Träume vor den Menschen zu verschleiern.
« Sie hatte inzwischen das Ende der Treppe erreicht, lief zu Leo und stieß ihm – so wie am Morgen Mark Laurel – den ausgestreckten Zeigefinger gegen die Brust. »Bist du auch einer von seinen Spionen, Leo Leonidas?«
    Er atmete scharf ein.

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