Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Wahnvorstellung zu schüren.
Das Mädchen nickte traurig. »Er betrügt alle. Wir Illúsier drohen im Meer zu versinken und euch macht die Ruhelosigkeit krank. Sie raubt euch die Lebenskraft. Wer zu wenig schläft, stirbt früher. Das ist ein ehernes Gesetz. Leider hat Zul euch dafür blind gemacht.«
»Ich finde, der Schlaf wird überbewertet. Was nützt mir ein längeres Leben, wenn ich die Hälfte davon verpenne?«
»Propaganda!«, explodierte Orla. »Heimtückische Augenwischerei von Refi Zul! Er hat den Sinn so vieler Menschen mit dieser Denkweise verblendet, dass ihnen der Irrwitz als das Normalste der Welt erscheint. Arglistig hält er seine Opfer bei Laune, damit sie den Raubbau an ihrer Lebenskraft nicht bemerken. Er bezahlt sie mit schillernden Seifenblasen, die so wertvoll sind wie Luftschlösser.«
Leo zog eine Grimasse. »Übertreibst du da nicht etwas?«
»Übertreiben?« Sie schnaubte. »Und warum grassiert dann überall die Pest der Oberflächlichkeit? Guck dir doch all die Mädels an, die sich beim Schönheitschirurgen unters Messer legen. Oder die Leute, die davon träumen, Superstar zu werden oder Champ in irgendeinem blöden Computerspiel. Sie hecheln unerreichbaren Idealen hinterher. Alles dreht sich immer schneller und niemand findet mehr Ruhe.«
»Ist das nicht der Lauf der Welt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind die Welt, Leo. Menschen mit einem freien Willen. Eigentlich sollten wir uns dagegen wehren, uns von Zuls sogenanntem ›Zeitgeist‹ impfen zu lassen. Wir stillen die Bedürfnisse, die seine Traumdiebe uns ins Unterbewusstsein flüstern, auf Kosten unserer Lebenskraft. Und mit YourDream hat er die Quadratur des Kreises geschafft. Er gaukelt euch vor, so gut wie ganz auf Schlaf verzichten zu können, um all die Luftschlösser zu bauen.«
Orla hatte sich so in Rage geredet, dass sie Leo wie eine dieser Umweltaktivisten vorkam, die sich in schwindelnder Höhe an Fabrikschornsteine ketteten, um die Luft zu retten. Es klang nicht alles unvernünftig, was sie sagte, und ihre Schilderungen aus Illúsion waren sogar auf beklemmende Weise authentisch, trotzdem blieb er skeptisch. »Von meinen Kumpels weiß ich, dass ihren Eltern ganz andere Sorgen den Schlaf rauben. Die
müssen sich ziemlich abstrampeln, um das nötige Kleingeld ranzuschaffen. Mein Vater hat auch kaum Zeit für mich.«
»Und findest du das in Ordnung?«
»Nö. Aber irgendwie normal.«
»Anscheinend merkst du nicht mal, wie krank das alles ist. Vielleicht wäre für manche Familie weniger mehr. Refi Zul gaukelt den Menschen vor, sie bräuchten unbedingt dieses und jenes, weil es ihr Leben vereinfacht und ihnen Zeit sparen hilft. In Wirklichkeit verkomplizieren die Sachen den Alltag nur. Erst musst du lernen, sie richtig zu bedienen, dann brauchen sie Pflege oder kostspielige Reparaturen. Und wie bald müssen sie durch was Neueres ausgetauscht werden, damit man nicht als rückständig gilt! Klar, dass so eine Tretmühle viel Kraft kostet – Energie, die vom Schlaf abgezogen wird.«
»Und das war früher anders?«, wandte Leo skeptisch ein.
»Früher waren meine und deine Welt im Gleichgewicht. Das Karussell drehte sich nicht so schnell. So konnten sich die Menschen im Schlaf erholen. Ungeträumte Träume gab es trotzdem genug, um Illúsion zu erneuern. Das Unheil nahm erst seinen Lauf als Timaios sich in Refi Zul verwandelte.«
»Sei mir bitte nicht böse, Orla, aber dieser Kopf der großen Weltverschwörung, der an sämtlichen Übeln unserer Zeit schuld sein soll – das ist mir dann doch etwas zu simpel.«
Sie schnaubte abermals. »Eine Schwäche vieler Menschen, die Zul gnadenlos ausnutzt: Sie sind blind für die einfachen Wahrheiten, weil sie immer nach komplizierten Antworten suchen.«
»Und warum erzählst du mir das alles? Was habe ich damit zu tun?«
»Du könntest das Karussell wieder auf normale Geschwindigkeit abbremsen.«
Er schluckte. »Wieso gerade ich?«
»Du bist ein Schlafverwandler. Du kannst deine Traumenergie so umwandeln, dass dir daraus ungeheure Kräfte erwachsen.«
Er verdrehte die Augen. »Ja, toll! Ich kreiere Seejungfern in den aktuellen Modefarben.«
»Sprich nicht so abschätzig über deine Gabe, Leo. Die Nixe ist nicht nix. Sie ist eine Traumgeborene, genauso wie es meine Eltern waren. Was dabei herauskommt, siehst du gerade vor dir stehen. Oder hältst du mich auch für ein Nichts?«
»Nein, du bist wunderbar!«, stieß er hervor und hielt erschrocken die Luft an.
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