Das Geheimnis der versteinerten Traeume
stotterte er überrascht. Das Ding konnte tatsächlich sprechen.
»Dann sollte ich es erst recht plattmachen, damit du weißt, wie’s mir geht«, klagte das Ungetüm und hob sein Bein etwas höher.
»Stopp!«, brüllte Leo. Gerade war Orla in der Tür erschienen. Im Schatten, den das Strohfeuer warf, schlich sie ins Freie. Benno, Angata und Dalmud stahlen sich nach ihr aus dem Rundhaus. Letzterer schnallte sich im Laufen seinen Schwertgurt um. »Vielleicht kann ich dir helfen«, fügte Leo rasch hinzu, um das Ungeheuer abzulenken. Es hatte die vier noch nicht bemerkt.
»Wer sagt denn, dass ich Hilfe brauche?«, antwortete es in weinerlichem Ton.
»Ich bin ein Drachenflüsterer.«
»Ach!«, staunte die Echse.
Er nickte übertrieben. »Ja, ich heiße Leo der Löwengleiche und komme aus Hamburg. Und wer bist du?«
»Gertrude. Ich bin ein Riesengründrache.«
»Nicht Agatha?«
»Hältst du mich für so senil, dass ich meinen eigenen Namen vergesse?«, fauchte das Ungeheuer. Rauchwolken stiegen aus seinen Nüstern.
»Nein, nein!«, stieß Leo hervor. »Entschuldige bitte. Ich wundere mich nur, dass du wie die Mutter von Hamlet heißt.« Er spürte eine Berührung an der Schulter und zuckte zusammen.
»Ich bin’s«, flüsterte Orla in sein Ohr. Das Mädchen hatte sich nicht mit Dalmud, Angata und Benno im Schatten des Nachbargebäudes versteckt, sondern war zurückgekommen. Ihre Nähe machte ihm Mut.
Gertrude musterte die Jugendlichen argwöhnisch. »Hamlet? Ich kenne nur Kotelett und genauso seht ihr zwei aus. Darf ich euch fressen?«
»Davon rate ich ab. In deinem Bauch nützen wir dir nichts. Trägst du eigentlich eine Zahnspange?« Für Leo gab es kaum noch Zweifel, dass seine Stippvisite in der Theater-AG hier seltsame Blüten trieb: Gertrude war eine Traumgeborene und er hatte sie erschaffen.
»Ist das eine Fangfrage?«, erkundigte sich die Drachendame lauernd.
»Nein, eine Maßnahme zur Kieferkorrektur.«
»Mit meinem Gebiss ist alles in Ordnung. Ich leide nur unter einer leichten Fehlsichtigkeit. Deshalb bin ich versehentlich auf das Haus getreten. Entschuldige bitte.«
»Ich sag’s dem Besitzer des Stalls. Irgendetwas bedrückt dich, nicht wahr?«
»Ja«, seufzte Gertrude. »Die Einsamkeit! Ich bin die Einzige meiner Art.«
»Woher willst du das wissen? Vielleicht gibt es irgendwo noch andere Riesengründrachen.«
»Das ist so ein Gefühl … ganz tief in mir drin … Ich kann es schwer beschreiben.«
»So ist es mir auch schon ergangen. Übrigens bin ich einmal einer Seejungfer begegnet, die in einer ähnlichen Lage war wie du. Im Nachhinein haben sich die Besorgnisse als Irrtum herausgestellt.«
»Kennst du denn andere Riesengründrachen?«
»Nicht persönlich. Du solltest vielleicht eine Gegend aufsuchen, in der du dich wohlfühlst. Da ist die Wahrscheinlichkeit am größten, weitere von deiner Art zu treffen.«
»Unsereiner erkältet sich leicht. Deshalb sind wir sehr wärmebedürftig und verkriechen uns gerne in stickigen Höhlen. Am gemütlichsten ist es in der Nähe von Feuer speienden Vulkanen oder heißen Quellen.«
»Einzimmerhöhle mit Zentralheizung und fließend Warmwasser …«, grübelte Leo. Island wäre vermutlich das passende Domizil für Gertrude. Oder der Vesuv in Süditalien. Es dürfte nur schwierig werden, ein Traumtor zu finden, durch das die Drachendame hindurchpasste. Orla flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ihr Atem kitzelte. Sein Mund verzog sich wie von selbst zu einem Lächeln.
»Ich hätte da genau das Richtige für dich.«
»Dann raus damit!«, drängte Gertrude aufgeregt.
»Erst musst du mir versprechen, hier keinen weiteren Schaden anzurichten.«
»Großes Drachenehrenwort. Sag mir, wohin ich mich wenden soll, und schon bin ich weg.«
»Flieg immer nach Norden. Halte nach einem Land Ausschau, das an die Wüste Sahi grenzt. Dort findest du alles, wonach dein Herz begehrt: heiße Quellen, einen Vulkan, einen Badesee …«
»Und andere Riesengründrachen?«
»Mit ein wenig Geduld auch das.«
Gertrude stieß einen feurigen Seufzer aus. »Das wäre zu schön!«
»Dann nichts wie los!«, sagte Leo. »Und pass auf, dass du beim Abheben keine weiteren Häuser platt walzt.«
»Versprochen. Und danke, Leo Löwengesicht. Ich könnte dich fressen, sosehr mag ich dich.«
Er winkte ab. »Ach, lass mal gut sein. Es freut mich, wenn ich dir helfen konnte.«
Die Drachendame verabschiedete sich überschwänglich, erhob sich unter immenser Staubentwicklung in
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