Das Geheimnis der versteinerten Traeume
den Nachthimmel und flatterte in Richtung Traumquelle davon.
Orla kicherte. »Jetzt hast du einen neuen Spitznamen weg.«
Er atmete erleichtert auf und lächelte selig.
Unvermittelt küsste sie ihn auf die Wange. »Danke, Leo Löwengesicht.«
»Wofür?« Er berührte versonnen die Stelle, auf der ihre Lippen geruht hatten.
»Du hast uns das Leben gerettet.«
Er verzog das Gesicht. »Ich glaube eher, ich habe euch in Gefahr gebracht, wenn auch unabsichtlich. Der Drache war meine Schöpfung.«
Sie lächelte. »Ich weiß, die Ähnlichkeit mit Agatha aus der Theatergruppe war ja unübersehbar. Ein mächtiger Schlafverwandler behält die Kontrolle über seine Kreaturen. So kann er …«
»… die Welt reicher machen, anstatt sie zu zerstören«, beendete der gute Dalmud den Sinnspruch und stieß sein Langschwert in die Scheide zurück. Er, Benno und Angata hatten sich den beiden unbemerkt genähert.
Orla wandte sich zu ihnen um. Aus den Schatten zwischen
den Häusern wagten sich noch weitere Dorfbewohner hervor. »Wie du siehst, Onkel, habe ich deine Lektionen nicht vergessen.«
»Von meiner besten Schülerin war kaum etwas anderes…« Der Alte verstummte mitten im Satz, weil plötzlich wieder die Alarmglocke läutete.
»Kehrt der Drache zurück?«, wunderte sich Angata.
Er schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang unheilschwanger. »Der Traumwächter blickt nicht nach Norden.«
»Und was bedeutet das?«, fragte Leo.
»Ich fürchte, die königliche Garnison im Süden der Insel hat mobilgemacht. Refi Zul schickt seine Wächter. Ihr müsst hier sofort verschwinden.«
»Dann kommen du und Angata aber mit«, sagte Orla.
»Nein. Ich muss euch Zeit verschaffen.« Er sah seine Frau an. »Die drei werden Licht und etwas Verpflegung brauchen.«
Sie nickte und lief eilig ins Haus.
»Ihr dürft nicht hierbleiben. Zuls Schergen werden euch beschuldigen, Rebellen geholfen zu haben«, beharrte Orla.
Der Alte lächelte. »So schnell klagt mich niemand an. Ich habe mich schon aus weitaus gefährlicheren Situationen…« Abermals verharrte er mitten im Satz und lauschte.
Ein Furcht erregendes Heulen und quiekendes Lachen hallte durch die Nacht.
»Was war das?«, fragte Benno. Seine Stimme zitterte vor Angst.
»Hyänenschweine«, antwortete Leo. Ihm wurde übel bei dem Gedanken, dass sich ein ganzes Rudel dieser Kreaturen dem Dorf näherte.
»Schnell!«, drängte der Alte. »Ihr müsst sofort aufbrechen.«
»Die Biester werden uns im Nu einholen.« Benno zeigte zum südlichen Dorfeingang. »Da kommen sie schon.«
Tatsächlich waren zwischen den ersten Rundhütten bereits einige dunkle Schemen auszumachen, die sich mal auf zwei, mal auf vier Beinen voranbewegten.
»Ich halte sie euch solange wie möglich vom Hals«, stieß Dalmud hervor, fuhr herum und atmete tief ein.
Zuerst verstand Leo nicht, wie der Alte ihnen helfen wollte, doch dann sah er, wie sich im Westen die Sterne verdunkelten. Sand?, dachte er.
Am Ortsrand löste sich mit unheimlichem Geräusch eine komplette Düne auf. Sie erhob sich als wirbelnde Wolke in den Nachthimmel und zischte auf die heranstürmenden Wächter zu. Als sie die Hyänenschweine hinter sich gelassen hatte, waren sie nur noch abgeschmirgelte, bleiche Skelette im Mondlicht. Leo erschauerte.
»Orla?«, rief Dalmud, ohne den Blick vom südlichen Dorfeingang zu wenden, wo eine wogende Wand aus Sand gen Himmel stob.
»Ja, Onkel?«
»Flieht durchs Palmentor. Du weißt, wo das ist?«
»Ja.«
»Versteckt euch im Schilf, bis deine Freunde kommen. Am Strand findet ihr mein Boot. Weicht niemals vom Weg ab, hörst du? Es könnte euch das Leben kosten.«
Sie warf sich dem Alten an die Brust. »Pass auf dich auf, Onkel Dalmud.«
»Keine Sorge, Kleines. Nimm mein Ariki mit. Du weißt ja, wie man damit umgeht.« Er öffnete seinen Waffengurt.
Angata war inzwischen aus dem Haus zurückgekehrt und übergab den Jungen eine brennende Fackel und einen Beutel mit Proviant. Eilig verabschiedeten sich alle voneinander.
Nachdem sich Orla das große Schwert auf den Rücken geschnallt
hatte, ergriff sie Leos Hand. »Komm! Lass mich ja nicht los!«
»Und ich?«, beklagte sich Benno.
Sie lachte grimmig. »Eine Klette wie du findet immer einen Pelz, in dem sie sich festkrallen kann.«
B enno hatte Mühe, mit dem schweren Proviantbeutel nicht den Anschluss zu verlieren. Seit dem Aufbruch jammerte er seinen Freunden ununterbrochen die Ohren voll. Als sie aufs Palmentor zuliefen, stieß er wie ein
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