Das Geheimnis der versteinerten Traeume
bockiges Kind einen unwilligen Laut aus. »Außerhalb des Dorfes sind wir den Monstern ausgeliefert. Das gibt ein Massaker. Sie werden uns zerfleischen. Lasst uns umkehren, ehe es zu spät ist.«
»Noch ein Wort und ich stopfe dir mit Ariki das Maul«, rief Orla.
»He, Kumpel, sag doch auch mal was!«
Damit war Leo gemeint, der sich in Schweigen hüllte und mindestens so viel Angst hatte wie der Rotschopf. Seine Knie waren wachsweich, als er jetzt an Orlas Hand durch das Palmentor eilte. Es bestand lediglich aus zwei schiefen Bäumen. Dahinter begann ein enger Korridor, der zwischen den Dünen hindurchführte. Nicht das kleinste Sandkorn bewegte sich darin. Beiderseits davon tobte ein unheimlicher Sturm. Kein Wind heulte, er pfiff nicht einmal, und trotzdem tanzten die feinen Sandkörnchen wilder herum, als Leo es sich je hätte vorstellen können. Er leuchtete mit der Fackel in das Gewirbel.
Benno stieß einen spitzen Schrei aus.
Links und rechts lagen mindestens ein Dutzend bleiche Gerippe.
Offenbar hatten die Wächter das Dorf zu umzingeln versucht. Beim Anblick der wie mit Schmirgelpapier glatt geschliffenen Hyänenschweinknochen fiel Leo eine Szene aus einem Abenteuerfilm ein. Im Amazonas hatten Piranhas ein Rind in Windeseile bis aufs Skelett abgenagt. Die Raubfische waren nichts gegen den von Dalmud entfesselten Sand. Er wütete rund um Tirza wie eine Bestie. Nur in dem schmalen Korridor nicht. Weicht niemals vom Weg ab, hörst du? Es könnte euch das Leben kosten.
»Da vorne ist das Schilf.« Das zischende Geräusch der aneinanderreibenden Sandkörner war so laut, dass Orla schreien musste. Gerade hatten die drei den Ausläufer einer Düne überquert. Das Mädchen zog Leo zu einer wohl vier Meter hohen Wand aus senkrechten Halmen mit Blättern. »Wenn ich dich jetzt loslasse, bleibst du brav hier stehen und passt auf die Klette auf, ja?«
»Ich bin kein kleines Kind mehr«, antwortete Leo. »Sind das die Trompetenrohre?«
Orla nickte, zückte das Schwert Ariki und hieb damit einige der Halme ab. Nach reiflicher Begutachtung wählte sie einen aus. Sie kürzte ihn mit einem geraden und einem schrägen Schnitt, entfernte ein Blatt, klopfte die Schrägkante mit dem Schwertknauf auf einem Stein platt und bohrte mit der scharfen Spitze der Klinge ein Loch hinein. Dann nahm sie das abgeflachte Ende in den Mund und blies.
Ein schnarrender Laut entwich, der Leo an eine jammernde Ente denken ließ. »Und damit willst du uns ein Transportmittel beschaffen?«, fragte er skeptisch.
Sie lächelte. »Wart’s ab. Lasst uns erst mal tiefer in den Schilfwald hineingehen. Da sitzen wir nicht wie auf dem Präsentierteller. Bleibt dicht hinter mir.« Orla drückte die Halme auseinander und ging voran.
Schon beim ersten Schritt in das Röhricht wurde Leo daran erinnert, dass Schilfrohr ein Gras ist, das in Sumpfgebieten wächst – sein Fuß versank tief im Schlick. Die neuen Sneakers waren für den Müll. Nach drei Metern stand er knietief im Wasser. »Na toll!«, brummte er.
»Hast du Probleme?«, fragte sein Freund und kicherte.
Leo drehte sich zu ihm um und traute seinen Augen nicht. Benno war kaum einen Zentimeter eingesunken. Es sah aus, als balanciere er auf rohen Eiern. »Findest du das lustig?«
»Ich steh drauf – im wahrsten Sinne des Wortes. Fühlt sich an wie Wackelpudding.«
»Hör sofort auf damit«, knurrte Orla.
»Ich kann nichts dafür. Anscheinend bin ich nicht nur wasserabweisend, sondern auch unsinkbar.«
Sie stöhnte. »Ich bring den Kerl noch um.«
»Bist du sicher, dass wir hier überhaupt je wieder lebend rauskommen?« , fragte Leo, um sie von Benno abzulenken.
Die Illúsierin funkelte ihn an. »Nicht, wenn du das Röhricht mit deiner Fackel in Brand steckst.«
Erschrocken blickte er nach oben. Die Flamme kam den Schilfhalmen tatsächlich ziemlich nahe.
»Am besten, du machst sie aus, es wird sowieso bald hell«, empfahl Orla. »Und du, Benno, markierst hier nicht die Boje. Ich möchte weder etwas von dir sehen noch hören. Duck dich. Meinetwegen krauch auf deiner Wampe durchs Röhricht. Und lass den Proviant nicht nass werden.«
Es zischte vernehmlich, als Leo die Fackel ins Wasser stieß. Dunkelheit umfing sie wie ein dicht gewebter Trauerflor. Die Morgendämmerung war am Himmelsgewölbe über ihnen bestenfalls zu erahnen. Er stöhnte. »Wir irren blind in einem Sumpf herum.«
»Schlimmer kann Inférnia auch nicht sein«, pflichtete Benno ihm bei.
»Mit solchen Äußerungen
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