Das Geheimnis der Wellen
nähen?«
»Du willst dir ein Kleid nähen?« Er sah zu ihr hinüber. »Ich dachte, solche Sachen kauft man im Laden.«
»Vielleicht aus der gelben Seide mit dem Veilchenmuster. Ich habe mir noch nie ein Kleid genäht, würde es aber gern ausprobieren.«
»Von mir aus.«
»Ich könnte die alte Nähmaschine nehmen, die hier oben steht. Vintage total.« Sie ordnete die Schnittmuster und wandte sich wieder der Kommode zu.
»Die Schublade geht nicht auf«, murmelte sie. »Vielleicht hat sich was verklemmt.«
Sie beugte sich vor und tastete die Schublade ab. »Vermutlich hat sie sich einfach nur verzogen.«
In diesem Moment ertasteten ihre Finger etwas, das sich anfühlte wie ein gebogenes Metallstück.
»Dahinten ist etwas«, sagte sie zu Eli. »In beiden Ecken.«
»Ich helfe dir.«
»Ich verstehe nur nicht, warum es die Schublade blockiert.«
Ungeduldig zerrte sie so lange, bis ihr die Schublade fast in den Schoß fiel.
»Hoppla«, rief sie erstaunt, sodass Eli erneut aufschaute.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, ich habe mir nur das Knie angestoßen. Da ist eine Art Geheimfach, Eli. Ganz hinten in der Schublade.«
»Ja, ein paar solcher Fächer habe ich auch in Schreibtischen entdeckt. Eines sogar in einem alten Küchenbüfett.«
»Aber hast du darin so was gefunden?«
Sie hielt ein hölzernes Kästchen hoch, in das ein großes geschwungenes L geschnitzt war.
»Bisher nicht.« Neugierig geworden, unterbrach er seine Inventur, während sie das Kästchen zum Tisch trug. »Es ist verschlossen.«
»Vielleicht ist der Schlüssel Teil der Sammlung, die wir gerade zusammenstellen. Im Büfettgeheimfach habe ich auch welche gefunden.«
Sie sah zu dem Einmachglas hinüber, in dem sie die Schlüssel aufbewahrten, die sie bei ihrer Durchsuchung des dritten Stocks entdeckten. Dann zog sie eine Haarnadel aus ihrer Frisur.
»Versuchen wir es zuerst hiermit.«
Er musste lachen. »Im Ernst? Du willst das Schloss mit einer Haarnadel knacken?«
»Das ist ein Klassiker, oder etwa nicht? So kompliziert wird das schon nicht sein.« Sie verbog die Nadel, steckte sie ins Schloss, drehte sie und wackelte vorsichtig damit hin und her. Da sie fest entschlossen war, die Kiste zu öffnen, wollte Eli schon aufstehen und das Einmachglas holen, als er ein leises Klicken hörte.
»Hast du das schon mal gemacht?«
»Nicht mehr, seit ich dreizehn war. Damals hatte ich den Schlüssel zu meinem Tagebuch verloren. Bestimmte Dinge verlernt man eben nie.«
Sie klappte den Deckel auf und entdeckte mehrere Briefe.
Sie waren schon vorher auf Briefe gestoßen. Die meisten waren so lang und gewunden wie die Straßen zwischen Whiskey Beach und Boston beziehungsweise New York. Manche stammten von Soldaten an der Front oder von Töchtern, die in die Ferne geheiratet hatten.
Sie erhoffte sich Liebesbriefe, denn davon hatten sie noch keine gefunden.
»Das Papier sieht alt aus«, sagte sie, als sie es vorsichtig auseinanderfaltete. »Der Brief dürfte mit einer Feder geschrieben worden sein, und, ach ja, da steht sogar ein Datum: 5. Juni 1821. Der Brief ist an Edwin Landon gerichtet.«
»Das müsste Violetas Bruder sein.« Eli warf einen Blick darauf. »Er muss damals um die sechzig gewesen sein, denn er starb im Jahr …« Er wühlte in seinem Gedächtnis. »Im Jahr 1830 oder so, auf jeden Fall Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Von wem stammt er?«
»Von einem James J. Fitzgerald aus Cambridge.«
Eli notierte sich den Namen. »Kannst du ihn mir vorlesen?«
»Ich glaube schon: Sir, zutiefst bedaure ich die unglücklichen Umstände und den Verlauf unserer Begegnung im letzten Winter. Ich hatte nicht vor, Sie oder Ihre Privatsphäre zu stören. Obwohl Sie damals keinen Hehl aus Ihrer Meinung und Ihrer Entscheidung gemacht haben, halte ich es für meine Pflicht, Ihnen heute auf Geheiß meiner Mutter zu schreiben, Ihrer Schwester Violeta Landon Fitzgerald. «
Abra verstummte und sah Eli mit weit aufgerissenen Augen an. »Eli!«
»Lies weiter.« Er stand auf, um ihr über die Schulter zu schauen. »In der Familienchronik steht nichts davon, dass sie geheiratet oder Kinder bekommen hätte. Lies weiter«, wiederholte er.
» Wie ich Ihnen bereits im Januar mitteilte, ist Ihre Schwester schwer erkrankt. Wir befinden uns nach wie vor in einer schwierigen Lage, denn seit mein Vater vor zwei Jahren starb, erdrücken uns die Schulden. Meine Anstellung bei Sir Andrew Grandon bringt mir ein ordentliches Gehalt ein, mit dem ich meine Frau und meine
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