Das Geheimnis der Wellen
stehen. »Sie kennen meine Eltern?«
»Natürlich. Ich habe sie ein paar Mal gesehen, wenn sie zu Besuch waren. Und ich habe sie in Boston getroffen, als ich Hester besucht habe.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie sie in Boston besucht haben.«
»Aber natürlich. Wir haben uns damals verpasst.« Sie steckte neue Wäsche ein und drehte sich um. »Sie ist Ihre Großmutter, Eli, aber in gewisser Weise ist sie auch meine. Ich liebe sie. Sie sollten vom Strand aus ein Foto vom Haus machen und es ihr schicken. Das freut sie bestimmt.«
»Mit Sicherheit.«
»Oh, und Eli?«, sagte sie. »Ich werde gegen halb sechs wiederkommen. Ich habe heute Abend nichts vor.«
»Sie werden wiederkommen?«
»Ja. Mit meiner Liege. Sie brauchen eine Massage.«
»Ich will keine …«
»Sie brauchen eine«, wiederholte sie. »Vielleicht möchten Sie keine, aber glauben Sie mir: Sobald ich damit angefangen habe, werden Sie Ihre Meinung ändern. Die Massage geht aufs Haus – sozusagen als Willkommensgeschenk. Ich rede von einer medizinischen Massage, Eli«, fuhr sie fort. »Ohne Handentspannung. Ich bin ausgebildete Masseurin.«
»Meine Güte!«
Sie lachte. »Nur, damit wir uns einig sind: also um halb sechs?«
Er ging ihr nach und wollte ihr sagen, dass er auf all das keinen Wert legte. Aber als er schon fast an der Tür war, fuhr ihm ein scharfer Schmerz in die Schultern.
»Mist, verdammter!«
Er musste mit den Armen irgendwie in den Mantel schlüpfen. Bald würden die Tabletten wirken. Dann könnte er Abra endlich aus seinen Gedanken verbannen und an seinem Buch weiterarbeiten.
Er würde herumspazieren und zu Hause anrufen. Sobald dieser unangenehme Schmerz in seinem steifen Hals nachließ, würde er Abra eine SMS schicken. Ja, am besten schickte er ihr eine SMS, in der er sie bat, nicht zu kommen.
Aber erst würde er ihren Rat befolgen, zum Strand hinuntergehen und Bluff House fotografieren. Vielleicht würde er seiner Großmutter ein paar Informationen über Abra entlocken können.
Er war nach wie vor Anwalt und sollte folglich in der Lage sein, einer Zeugin Informationen zu entlocken, die ohnehin auf seiner Seite stand.
Er ging durch den Innenhof, sah sich um und entdeckte Abra an seinem Schlafzimmerfenster. Sie winkte.
Er hob kurz die Hand und wandte sich wieder ab.
Sie hatte eines dieser faszinierenden Gesichter, bei denen man als Mann zweimal hinsieht.
Deshalb starrte er stur geradeaus.
4
Er hatte den Spaziergang am verschneiten Strand mehr genossen als gedacht. Die winterweiße Sonne brannte vom Himmel, wurde vom Meer und vom Schnee reflektiert, brachte beides zum Funkeln. Andere waren vor ihm dort entlanggegangen, also folgte er ihren Fußspuren hinunter zum nassen kalten Sandstreifen, den die Wellen freigelegt hatten.
Küstenvögel landeten dort, stolzierten hin und her und hinterließen flache Abdrücke, über die das Wasser hinwegschäumte und sie zum Verschwinden brachte. Sie riefen, kreischten, tauschten sich aus und erinnerten ihn trotz der winterlichen Landschaft daran, dass es wieder Frühling werden würde.
Er folgte einem Trio von Vögeln, die er für Seeschwalben hielt, blieb stehen, machte noch ein paar Fotos und schickte sie nach Hause. Im Weitergehen sah er auf die Uhr, überlegte kurz und rief seine Eltern an.
»Und, was machst du so?«
»Gran!« Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie drangehen würde. »Ich mache gerade einen Strandspaziergang, wir haben bestimmt einen halben Meter Schnee. Wie geht es dir?«
»Es geht so. Mich nerven die Leute, die nicht wollen, dass ich mehr als zwei Schritte ohne diesen dämlichen Rollator mache. Ein Stock genügt vollauf.«
Da ihm seine Mutter eine E-Mail geschickt und ihn über diese Auseinandersetzung informiert hatte, war er vorgewarnt. »Besser, man ist so intelligent, keinen erneuten Sturz zu riskieren. Und ich habe dich immer für intelligent gehalten.«
»Solche Tricks verfangen bei mir nicht, Eli Andrew Landon.«
»Du bist also nicht intelligent?«
Er brachte sie zum Lachen. Immerhin etwas.
»Doch. Mein Oberstübchen funktioniert bestens, danke der Nachfrage, auch wenn ich mir gar nicht erklären kann, warum ich gestürzt bin. Ich kann mich nicht mal daran erinnern, wie ich aufgestanden bin. Aber egal, ich befinde mich auf dem Weg der Besserung und will von diesem Alte-Leute-Rollator nichts wissen. Wie geht es dir?«
»Ganz gut. Ich schreibe täglich und komme mit meinem Roman ordentlich voran. Das tut mir gut. Und es tut gut, hier zu
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