Das Geheimnis der Wellen
stimmt: Die beiden sind einfach klasse. Wir sehen uns am Sonntag.«
»Am Sonntag?«
»Zu deiner Massage. Sie bleibt medizinisch«, sagte sie, als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah. »Selbst, wenn du dir endlich einen Ruck und mir einen Gutenachtkuss gibst.«
»Ich habe dir Trinkgeld gegeben.«
Sie hatte ein unwiderstehliches Lachen, verströmte so viel positive Energie, dass er gar nicht genug von ihr bekommen konnte. Um es sich selbst zu beweisen, kam er näher, ganz langsam. Er legte die Hände auf ihre Schultern und ließ sie ihre Arme hinuntergleiten, spürte die Wärme, die sie nach der langen Zeit im Pub ausstrahlte.
Dann beugte er sich vor und küsste sie auf den Mund.
Zur Abwechslung langsam und sanft, dachte sie. Weich und verträumt. Ein schöner Kontrast zu dem heftigen Drängen vorher. Sie legte die Arme um seine Taille, gab sich ihm hin.
Er hatte mehr zu geben, als er ahnte. Mehr Wunden, als er sich eingestehen wollte. Beides faszinierte sie.
Als er sich von ihr löste, seufzte sie. »Nun, Eli, Maureen hat absolut recht: Du kannst wirklich gut küssen.«
»Ich bin ein wenig eingerostet.«
»Ich auch. Das könnte spannend werden, meinst du nicht?«
»Warum bist du eingerostet?«
»Das ist eine Geschichte für ein warmes Zimmer und eine Flasche Wein. Ich muss wieder rein.«
»Ich will sie hören, deine Geschichte.«
Über diese Worte freute sie sich, als hätte er ihr einen Strauß Rosen geschenkt. »Dann werde ich sie dir erzählen. Gute Nacht, Eli.«
Sie huschte hinein, zu der Musik und dem Stimmen gewirr. Und ließ ihn aufgewühlt und voller Sehnsucht stehen. Er hatte doch tatsächlich Sehnsucht nach ihr. Viel zu lang hatte er nichts als seine Ruhe gewollt.
*
Den ganzen verregneten Samstag arbeitete Eli. Er ging ganz in seinem Roman auf, bis er merkte, dass er eine komplette Szene geschrieben hatte, in der Regen gegen die Fenster peitscht und der Held die Lösung für sein Problem findet, während er im leeren Haus seines toten Bruders auf und ab läuft.
Zufrieden über seine Fortschritte riss er sich von der Tastatur los und zwang sich, den Fitnessraum seiner Großmutter aufzusuchen. Er dachte an die vielen Stunden zurück, die er in seinem Bostoner Fitnesscenter mit den eleganten Geräten, den vielen gestählten Körpern und der aufputschenden Musik verbracht hatte.
All das war Vergangenheit, rief er sich ins Gedächtnis.
Aber er war nicht Vergangenheit.
Auch wenn ihm die bonbonbunten Hanteln seiner Großmutter etwas peinlich waren, fünf Kilo blieben fünf Kilo. Er war es leid, sich schwach, dünn und schlaff zu fühlen. Er war es leid, sich gehen zu lassen oder auf der Stelle zu treten.
Wenn er schreiben konnte, was er sich Tag für Tag bewies, konnte er auch Gewichte stemmen und wieder ganz der Alte werden.
Er griff nach einem lila Hantelset. Er konnte der Mann werden, der er sein sollte.
Er war noch nicht so weit, seinem Spiegelbild gegenüber treten zu wollen. Deshalb machte er den ersten Satz Armbeugen vor dem Fenster und warf einen Blick auf die sturmgepeitschten Wellen, die an die Küste brandeten. Er sah zu, wie die Gischt unter dem grellen, rotierenden Licht des Leuchtturms aufspritzte.
Was sein Held wohl als Nächstes tun würde, nachdem er einen wichtigen Meilenstein erreicht hatte? Dann fragte er sich, ob er das geschrieben hatte, weil er selbst glaubte, einen wichtigen Meilenstein erreicht zu haben oder sich ihm zumindest zu nähern.
Hoffentlich, dachte er.
Er legte die Hanteln weg, begann mit dem Ausdauertraining und hielt zwanzig Minuten durch, bevor seine Lunge brannte und seine Beine zitterten. Er machte ein paar Dehnübungen, trank Wasser und stemmte noch eine Runde Gewichte, bevor er sich keuchend zu Boden fallen ließ.
Schon besser, dachte er. Auch wenn er keine Stunde durchgehalten hatte und sich fühlte wie nach einem Triathlon, hatte er eindeutig Fortschritte gemacht.
Diesmal schaffte er es sogar unter die Dusche, ohne zu humpeln.
Er beglückwünschte sich erneut, als er die Treppe hinunterging, um nach etwas Essbarem Ausschau zu halten. Er hatte richtig Appetit, fühlte sich regelrecht ausgehungert. Das war bestimmt ein gutes Zeichen.
Vielleicht sollte er sich angewöhnen, diese kleinen Fortschritte schriftlich festzuhalten. Als tägliche Ermutigung sozusagen.
Allerdings wäre ihm das fast noch peinlicher, als lila Hanteln zu stemmen.
In der Küche überwältigte ihn der Duft, bevor er den Plätzchenteller auf der Kücheninsel entdeckte.
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