Das Geheimnis Des Amuletts
irgendjemanden sehen lassen, was ich geschrieben hatte, und es hätte mich zur Verzweiflung gebracht, auch nur eines meiner niedergekritzelten Geheimnisse zu verlieren, meine Versuche, ein Gedicht zu erschaffen. Es wäre schrecklich gewesen, wenn eines davon auf der Schultreppe gelandet wäre, wo jeder es hätte aufheben und sich darüber lustig machen können oder es einfach in den Mülleimer hätte werfen können.
Ich wusste plötzlich, was ich zu tun hatte. Ich drehte mich um und lief den Zufahrtsweg entlang. »He, du hast etwas verloren! Das hier gehört dir, du hast deine Musik verloren«, rief ich. Aber als ich beim Tor ankam, war der Junge weg. Er war weg, obwohl ich weder ein Taxi noch sonst etwas gehört hatte und auch gar keine Fahrspuren auf der feuchten Erde zu sehen waren. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Nur war es unmöglich, dass Menschen so etwas so einfach tun konnten …
Nein. Er musste das Warten leid geworden und ins Dorf gegangen sein. Aber ich hatte immer noch seine Musik. Lied für eine Fremde . Ich stand einen Moment beim Tor und bedauerte, dass er weggegangen war, dann riss ich mich zusammen. Ein paar Worte mit einem Jungen von St. Martin’s gewechselt zu haben war nichts von Bedeutung. Es war weit wichtiger herauszufinden, was Velvet gesehen hatte, bevor ich auf diesem Weg gelandet war. Ich schob das Stück Papier in meine Tasche und ging nachdenklich den Weg zurück.
Gewöhnlich versuchten Sarah und Evie, Velvet von mir fernzuhalten, seit wir wussten, dass sie ein Prüfstein war. Allerdings hatte sie mich im Umkleideraum überrascht. Das war es, was ich im Blick behalten musste, wie ich mir immer wieder sagte, während ich langsam zur Schule zurückging; Velvet und der Mystische Weg und das verhängnisvolle Schicksal meiner Mutter, nicht irgendein Junge, der mir zufällig begegnet war und den ich nie mehr wiedersehen würde. Als ich allerdings in dieser Nacht im Schlafsaal einschlief, hallte der helle, wilde Klang einer Flöte durch meine Träume, wie ein Vogel, der die Morgendämmerung begrüßt.
Am nächsten Morgen hatte ich keine Zeit, lange in solchen Phantasien zu schwelgen. Gleich nach dem Frühstück ergriff Velvet die Gelegenheit, mich festzunageln, als ich einen Brief von Tony abholte. Die Post für die Schülerinnen lag wie immer auf einem Tisch in der Eingangshalle, und ich freute mich, als ich seine Handschrift erkannte. Aber Velvet machte jeden Anflug von Freude über die Tatsache, dass ich einen Brief bekommen hatte, zunichte. Sie stellte sich mir in den Weg, als ich versuchte wegzugehen, grub ihre scharlachroten Nägel in meinen Arm und schob mich in das Empfangszimmer, einen hübschen Raum abseits von der Eingangshalle, in dem bevorzugte Eltern gelegentlich mit ihren geliebten Töchtern und der Obersten Mistress Tee trinken konnten. Ich war noch nie darin gewesen. Meine Mutter hatte mich nicht einmal öffentlich als Tochter anerkannt, ganz zu schweigen davon, dass sie irgendein Aufhebens um mich gemacht hätte. Velvet schob mich weiter auf eines der kleinen goldgerahmten Sofas und schloss die Tür.
»Amüsierst du dich, seit du wieder in der Schule bist, Helen?«, fragte sie spöttisch.
»Sag mir einfach, was du zu sagen hast, und lass mich in meine Klasse gehen.«
»Du hast es aber eilig. Hast du gar keine Zeit für ein kleines Schwätzchen mit mir? Ich denke, da gäbe es so einiges, das wir zu bereden haben.«
»Das glaube ich kaum.«
Sie rückte näher zu mir heran; ihre Augen glitzerten wie schwarze Diamanten. »Aber du wolltest mir im letzten Term etwas sagen. Sarah und Evie waren dagegen, aber du weißt, dass das nicht fair ist, nicht wahr? Wissen sollte geteilt werden. Gehört das nicht zu den Gesetzen ›Alles für das gemeinsame Wohl‹?«
Ich hatte das Gefühl, als würde eine Flamme hinter meinen Augen aufflackern und meinen Geist ausfüllen.
»Was willst du?«, keuchte ich.
Velvet zögerte, dann verzichtete sie auf ihre zuversichtliche, angeberische Pose. »Willst du das wirklich wissen?«, fragte sie ruhig. »Die Wahrheit ist: Ich will einfach nur deine Freundin sein, Helen.«
»Ich dachte, du würdest Wyldcliffe und alles, was damit verbunden ist, hassen«, sagte ich überrascht.
»Ich hasse nur das, was langweilig und gewöhnlich ist«, sagte sie. »Und du bist weder das eine noch das andere. Ich brauche deine Hilfe, Helen. Ich muss die Wahrheit wissen. Ich habe dich gestern gesehen.«
»Nein! Du hast gar nichts gesehen!«
Ich stand
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