Das Geheimnis Des Amuletts
Blicke trafen sich. Ein Gefühl von Weite und Licht schien mich zu erfüllen, eine Benommenheit …
Es war nichts. Nur die Erschöpfung, eine Folge meiner Begegnung auf dem Ridge. »Ich gehe jetzt besser«, sagte ich abrupt. »Ich muss wieder in die Schule zurück.«
Der Junge hielt mir das Tor auf, und ich musste ganz dicht an ihm vorbeigehen, um auf das Gelände zu kommen. Meine Hand berührte eine Sekunde lang seine. Dann schloss sich das Tor mit einem metallischen Klang und trennte uns voneinander wie das Gitter bei der Beichte. Er sah durch das Gitterwerk hindurch und starrte mich an.
»Geh noch nicht, Helen.«
Ich muss überrascht ausgesehen haben, weil er wusste, wer ich war, denn er lächelte wieder und sagte: »Ich habe Mr. Brooke nach dem Namen des hübschen Mädchens gefragt, das in meine Musikstunde geplatzt ist.«
»Das bin ich nicht – du machst dich über mich lustig.«
»Wie kommst du darauf?«
Ich fühlte mich gezwungen, ihm die Wahrheit zu sagen. »Weil ich nicht hübsch bin.«
»Vielleicht solltest du es anderen überlassen, das zu beurteilen«, sagte er sanft.
Jetzt war ich wirklich verblüfft. Noch nie hatte jemand so etwas zu mir gesagt, nicht in meinen wildesten Träumen. Ich rückte unsicher ein Stück von ihm weg und begann, hastig den Zufahrtsweg entlangzugehen.
»Helen, bleib bitte noch einen Moment!« Da war eine Eindringlichkeit in seiner Stimme, die mich dazu veranlasste, stehen zu bleiben und mich umzusehen. »Ich wollte mit dir sprechen«, sagte er. »Nach dem Ende des Unterrichts bei Mr. Brooke habe ich in der Schule nach dir gesucht.«
»Nun, jetzt hast du mich ja gefunden. Ich muss wirklich los, sonst kriege ich Ärger.«
»Kann ich dich wiedersehen, wenn ich das nächste Mal herkomme?«, fragte er.
»Ich weiß nicht – ich weiß es nicht. Ich schätze schon. Ich bin immer hier. Wyldcliffe ist mein Zuhause.«
»Dein Zuhause? Ich dachte, es wäre nur eine Schule.«
Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich kein richtiges Zuhause hatte, nicht einmal bei meinem Vater. Es gehörte nicht zu den Dingen, die man einem völlig Fremden einfach so von sich erzählte. Ein völlig Fremder – und zugleich wirkte er so vertraut. Ich war durcheinander. Ich sollte weggehen, wieder wachsam sein. Ich brauche niemanden . Aber seine Augen musterten mich kühl und ruhig und voller Licht und versuchten, mich zum Sprechen zu bringen.
»Was tust du eigentlich in Wyldcliffe?«, fragte ich. Es musste schroff geklungen haben, aber es schien ihn nicht zu stören.
Der Junge deutete auf den kleinen Kasten, den er trug. »Flötenstunden«, sagte er mit einem Grinsen. »Ich habe in diesem Term als Schüler auf der St. Martin’s Academy angefangen, und da der Musiklehrer krank geworden ist, komme ich hierher, um bei Mr. Brooke zu lernen. Ich warte gerade darauf, dass ein Taxi mich nach St. Martin’s zurückbringt.«
Ich spürte eine gewisse Enttäuschung. Also war er einer der reichen jungen »Herren« von St. Martin’s, einer noblen Schule in der nahe gelegenen Stadt Wyldford Cross. Er gehörte zu der Sorte Jungen, mit denen Leute wie India Hoxton und Camilla Willoughby-Stuart auf ihren Partys zu flirten pflegten. Die Leichtigkeit, die ich zuvor in seiner Gegenwart verspürt hatte, verschwand. Ich hatte ihm nichts zu sagen, egal, wie talentiert er als Musiker sein mochte. Wir hatten nichts gemeinsam und würden auch nie etwas gemeinsam haben.
»Ich muss gehen«, murmelte ich, und diesmal kehrte ich ihm wirklich den Rücken und schritt auf die massive Schultür zu. Sie würde noch nicht abgeschlossen sein; ich war noch nicht zu spät. Dann erregte etwas meine Aufmerksamkeit. Ein Stück zerknittertes Papier lag wie ein blasses Blatt auf der obersten Stufe. Es war über und über verschmiert, aber nicht mit Worten, sondern mit Noten, die mit der Hand niedergeschrieben worden waren. Als ich es aufnahm, sah ich die Überschrift: »Lied für eine Fremde.«
Eine Fremde. Ich wusste sofort, dass der Junge diese Melodie komponiert haben musste, um sie auf seiner Flöte zu spielen. Ich konnte die Musik fast in meinem Kopf hören, und ich zitterte, als würden der Frost und das Mondlicht und die eishellen Sterne durch meinen Geist tanzen.
Ich wollte die Verse, die ich schrieb, immer beschützen. Jedes Wort war kostbar und unwiederbringlich, wenn es verloren ging. Die Seele kämpfte darum, sich auszudrücken, und Geheimnisse wurden als Worte und Reime und Bilder niedergeschrieben. Ich habe nie
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