Das Geheimnis Des Amuletts
erfindet er eine neue Regel oder ein neues Gesetz. Wyldcliffe war ja vorher schon schlimm, aber das jetzt …«
»Kommst du, Evie? Wir werden hier pitschnass, und außerdem müssen wir Helen finden«, unterbrach Sarah mich.
»Tut mir leid. Bis später, Josh.«
Die Jungen gingen zu den Ställen, während wir das Schulgebäude betraten. Velvet folgte uns wild entschlossen dicht auf den Fersen. Die eindrucksvolle Eingangshalle stand leer; das einzige Licht stammte von den kleinen roten Flammen, die in dem wuchtigen Kamin flackerten. In den Schatten an den Wänden hing ein kleines Ölgemälde, das jedes Mal von Neuem meine Aufmerksamkeit erregte. Es war ein Portrait von Lady Agnes Templeton – ein weiteres Relikt aus der Vergangenheit anderer Schülerinnen von Wyldcliffe. Für mich hatte es aber darüber hinaus eine ganz persönliche Bedeutung. Ich hatte die grauen Augen und den liebevollen Blick schon so viele Male zuvor gesehen, und gerade jetzt, in diesem Augenblick, benötigte ich ihre Führung. Ich blieb vor dem Portrait stehen und flüsterte: »Hilf uns, Agnes.« Unter meiner Kleidung war der Talisman verborgen, ruhte an meinem Herzen. »Und lass den Talisman Laura helfen«, fügte ich ruhig hinzu.
»Was sagst du da? Was hat denn diese Lady Nochwas mit alldem zu tun?«, wollte Velvet wissen, als sie bemerkte, dass ich das Gemälde anstarrte. »Sie ist tot, oder?«
»Das wirst du schon noch sehen«, erwiderte ich kurz angebunden. »Das heißt, wenn es dir wirklich ernst damit ist, uns zu helfen. Kommt weiter.«
Wir gingen am Bild von Agnes vorbei und direkt zum Schlafsaal, den Helen und ich mit Celeste und Sophie teilten. Celeste lag auf ihrem Bett und blätterte ungeduldig in einer Zeitschrift.
»Hast du Helen gesehen?«, fragte ich.
»Sprichst du mit mir, Johnson?« Celeste sah mich von oben bis unten an, als wäre ich irgendeine Dienerin. »Lass mich in Ruhe, ja?«
»Äh … ich glaube …« Sophie saß zusammengekauert im Sessel am Fenster und sah uns jetzt unruhig an; es schien sie zu überraschen, dass Velvet bei uns war. »Helen war hier und hat in ihrem Tagebuch oder so geschrieben. Dann ist sie rausgelaufen, als wir reingekommen sind. Sie hat irgendwas gesagt von wegen frische Luft schnappen.«
Sarah und ich drehten uns um und liefen die Treppe hinunter; Velvet folgte uns. Wir kamen an einer Gruppe murrender Schülerinnen vorbei, die sich über die letzte Anordnung von Dr. Franzen beklagten. Ich war mir nicht sicher, welche es war, denn es gab so viele: Es ist Schülerinnen untersagt, am Abend Freizeitkleidung zu tragen. Das Licht wird in Zukunft eine halbe Stunde früher gelöscht. Altgriechisch ist ab sofort für alle Schülerinnen Pflichtfach. Alle Schülerinnen müssen sich in das Programm für Unterricht in klassischer Musik eintragen, der nach dem gewöhnlichen Unterricht stattfindet; alle Schülerinnen müssen in einem Chor singen. Alle Schülerinnen müssen am Gedenkkonzert teilnehmen.
»Das ist einfach nicht fair!«, beklagten sie sich grollend, aber als ich an ihnen vorbeilief, wünschte ich mir, dass ich mir nur um Dr. Franzen und seine armseligen Regeln Sorgen machen müsste. Wir liefen hinaus in den Regen und auf das Schulgelände, riefen dabei nach Helen.
»Seht nur!«, rief Velvet.
Jemand stand vollkommen regungslos am anderen Ende des nassen Rasens beim See. Es war Helen, und sie wandte sich ihren inneren Visionen zu, war so versunken in ihre Träume, dass sie ihre Umgebung gar nicht mehr wahrnahm. Wir liefen zu ihr hin, während der Regen die Oberfläche des Sees aufpeitschte. Im Hintergrund erhob sich die Ruine der Kapelle von Wyldcliffe; in der Düsternis und bei dem feuchten Wetter wirkte sie richtig unheimlich.
»Was tust du hier draußen im Regen, Helen?«, fragte ich. »Du wirst noch krank werden. Und wo warst du überhaupt?«
Helen drehte sich zu uns um, und ich blieb abrupt stehen. Ich hatte erwartet, einen gehetzten und traurigen Gesichtsausdruck zu sehen und sie in einer ihrer unglücklichen Stimmungen vorzufinden, aber sie strahlte, als wäre sie von einer Freude erfüllt, die an süßen, klaren Wein erinnerte.
»Helen …« Ich wusste, dass ich eigentlich hätte zufrieden sein sollen, aber um die Wahrheit zu sagen, war ich verwundert und sogar etwas verstört. Was war da los? Wusste Helen etwas, das wir nicht wussten? Hatte sie die Antwort darauf gefunden, wie wir Laura retten konnten? Ich wollte ihr hundert Fragen stellen, wurde aber durch Velvets Gegenwart
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