Das Geheimnis Des Amuletts
auch auf. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Mein Name ist Lynton. Und wie ich dir sagte, bin ich ein Schüler von St. Martin’s. Ich habe heute Nachmittag wieder eine Übungsstunde bei Mr. Brooke. Es war so ein schöner Tag, dass ich den Taxifahrer gebeten habe, mich bei den Moors rauszulassen, um den Rest des Weges nach Wyldcliffe zu Fuß zurückzulegen.« Er zuckte reumütig mit den Schultern. »Ich habe allerdings die Entfernung unterschätzt und auch, wie schnell das Wetter hier umschlagen kann.«
»Man sollte nie etwas unterschätzen, das mit Wyldcliffe zu tun hat«, murmelte ich und wandte mich ab, um wegzugehen. Das wundervolle Gefühl der Leichtigkeit war verschwunden; jetzt spürte ich nur eine dumpfe, schmerzende Übelkeit in der Magengrube. Ich hatte mich zum Narren gemacht, indem ich meinem maßlosen Unsinn nachgegeben habe; die arme verrückte Helen Black. Er war nur ein Fremder, und es gab keine Verbindung zwischen uns. Ich wollte oder brauchte ihn nicht in meinem Leben. Ich brauchte niemanden. Ich war einfach nur durchnässt und kalt und wild darauf, von hier wegzukommen. Allein zu sein.
»Warte, Helen. Lass mich mit dir zurückgehen.«
»Na schön«, sagte ich reichlich unfreundlich. Ich konnte nicht auf dem Wind zur Schule zurücktanzen, wenn dieser Lynton an mir klebte. Ich wünschte, er hätte sich nie die Mühe gemacht, mich anzusprechen. Das Leben war vorher einfacher gewesen.
Es regnete immer noch heftig, als wir uns schweigend auf den Weg zur Abteischule machten. Wo wohnst du? Gefällt dir St. Martin’s? Wie alt bist du? All diese banalen Fragen, die mir über die Lippen kamen, erstickten mich. Ich konnte solche Sachen nicht sagen. Für einen Moment schon – aber dieser Moment war vorübergegangen und hatte sich in nichts aufgelöst, und ich hatte nicht vor, die Leere mit atemlosem, idiotischem Gequatsche zu füllen. Es wurde ein langer Rückweg.
Als wir uns schließlich dem Dorf näherten, sagte Lynton: »Ich habe das Gefühl, du hast mich mehr gemocht, bevor ich Dr. Franzen erwähnt habe.«
Ich ging weiter die matschige Straße entlang und zwang mich zu sagen: »Sei nicht albern. Es hat damit nichts zu tun. Es ist gar nichts.«
»Dann magst du mich also?«
Ich ignorierte die letzte Bemerkung, aber er holte mich ein und nahm meinen Arm, zwang mich, ebenfalls stehen zu bleiben. Er zog mich sanft herum, so dass ich ihn ansehen musste. »Helen«, sagte er leise. »Es tut mir leid, dass es immer noch weh tut.«
»Wovon sprichst du?«
»Von gar nichts.« Er ließ mich los. Seine Augen lachten jetzt gar nicht mehr. Sie wirkten so traurig und auch nicht mehr jung. Er sah anders aus, als hätte er viel Kummer erlebt. »Es ist leicht zu erraten, dass du unglücklich bist«, sagte er. »Ich kann es in deinem Gesicht sehen. Manche Leute haben Gesichter wie Masken, die alles verbergen. Aber obwohl du versuchst, dich vor anderen Menschen zu schützen, ist dein Gesicht für mich so offen wie das eines Kindes. Ich möchte dich gern … besser kennenlernen, Helen.«
Seine Worte bewirkten, dass ich mich ungeschützt und völlig offen fühlte. Beinahe wäre ich in Tränen ausgebrochen. »Wieso? Ich bin … ich bin niemand Besonderes.«
»Sag das nicht. Niemals.«
»Aber so ist es.« Ich sah in die Richtung, wo in einiger Entfernung die Abteischule lag, und murmelte: »Die anderen Mädchen in der Schule lachen über mich. Sie halten mich für verrückt. Vielleicht bin ich das auch.«
»Die Leute halten immer für verrückt, was anders ist. Was sie nicht verstehen. Und du bist anders, Helen. Aber anders zu sein ist manchmal auch ein Segen. Ein Zeichen.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich. »Ein Zeichen wofür?«
»Oh, dass wir nicht alle so ein geordnetes Leben führen können. Ich glaube nicht, dass du das jemals tun wirst.« Lynton sah mich direkt an, und sein Gesicht wirkte so strahlend und lebendig wie eine Flamme in der Nacht. »Du bist meine wunderschöne Fremde. Ich möchte Musik für dich erschaffen, und ich möchte dich zum Singen bringen und zum Lachen und dazu, im Wind zu tanzen.«
Ich konnte nicht glauben, was er da sagte. »Fang nicht an, mich … mich zu verspotten«, brachte ich mühsam hervor.
»Das tue ich nicht, das schwöre ich. Es ist mir nicht egal, was mit dir passiert.«
»Wieso um alles in der Welt nicht?«
»Weil du es nicht verdient hast, unglücklich zu sein. Und wenn du dir jemals wegen Dr. Franzen – oder sonst jemandem – Sorgen machst
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