Das Geheimnis Des Amuletts
verlassen und an die frische Luft zurückkehren konnte.
»Möchtest du einen Kaffee oder etwas zu essen?«, fragte Lynton.
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte noch nie mit einem Jungen in einem Café gesessen und die Zeit damit totgeschlagen, über unwichtige Dinge zu quatschen und zu kichern, und allein bei der Vorstellung fühlte ich mich unwohl. Ich spürte, wie sich Schüchternheit und Schweigen wieder meiner bemächtigten.
»Ähm … nein, danke«, sagte ich. »Ich sollte jetzt besser wieder zurückgehen. Aber danke, dass du mich hierhergebracht hast.«
Lynton wirkte enttäuscht. »Na schön. Wenn du das willst.«
Wir waren schnell wieder beim Auto. Auf dem Rückweg sprach Lynton über die Lieder, die wir gehört hatten, oder über verschiedene musikalische Techniken, und wenn in unserer Unterhaltung einmal Pausen entstanden, füllte er sie locker und geschmeidig aus. Allerdings nahm er einen anderen Weg zurück. Statt die Straße durch die Moors zu benutzen, über die wir hergekommen waren, lenkte er das Auto eine schmale Straße entlang, die auf beiden Seiten von Steinmauern und verstreuten Dornenbüschen gesäumt war.
»Was tust du da?«, fragte ich, plötzlich alarmiert.
»Uns in die Irre fahren.«
»Wie meinst du das?«
»Keine Sorge. Ein Stück weiter gibt es etwas, das ich dir noch lieber zeigen möchte als den Kathedralenchor. Bist du jemals in Thornton Falls gewesen?«
»Meinst du die Wasserfälle auf der anderen Seite der Moors ? Nein, aber ich erinnere mich, dass Miss Scratton vor ein paar Jahren einige Mädchen mit dorthin genommen hat. Ich war krank und konnte nicht mitgehen. Aber wir haben jetzt keine Zeit mehr, oder?«
»Oh, Helen, es ist kein großer Umweg, und du sollst einfach nur den Wasserfall sehen. Es ist ein perfektes Wunder.«
»Aber ich darf nicht zu spät zur Schule zurückkommen. Ich werde Ärger kriegen, und Dr. Franzen …«
Lynton lenkte das Auto an den Straßenrand und legte seine Hand auf meine. »Ich verspreche dir, dass du nicht zu spät kommen wirst. Miss Hetherington erwartet dich noch lange nicht zurück. Und ich würde niemals etwas tun, das dir Probleme mit Dr. Franzen bereitet. Niemals.« Seine Stimme war sanft, aber der Blick in seinen Augen war hart – eindringlich. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte: »Schau, wir sind hier in den Moors , und alle anderen sitzen im Unterricht fest. Wieso versuchen wir nicht, das Beste daraus zu machen?«
Einen Moment lang sah ich mich als eine vollkommen andere Person, die sich mit einem Freund wegschlich wie jeder andere Teenager, bereit für einen Tag gestohlener Freiheit und Fröhlichkeit. Und genau jetzt wollte ich dieses Mädchen sein. Ich sah Lyntons bittendes Gesicht und lachte. »Also schön, bring mich zu deinem Wunder. Aber das nächste Mal erzähl mir eher davon, bevor wir uns verirren.«
»Okay.« Er grinste, und ich fragte mich, ob es ein »nächstes Mal« geben würde. Aber an diesem Tag, in diesem Augenblick, genügte es mir, einfach mit ihm zusammen zu sein.
Lynton fuhr vorsichtig die holperige Straße entlang. Irgendwann bemerkte ich zusätzlich zum Brummen des Motors noch ein anderes, aus der Ferne herandringendes Geräusch. Schließlich verwandelte sich die Straße in einen schmalen, unbefestigten Pfad.
»Wir müssen aussteigen und zu Fuß weitergehen«, sagte Lynton.
Ich zog meinen Schal und meinen Mantel fester um mich, als wir das Auto zurückließen und in die Richtung des Geräuschs marschierten. Die Sonne kam eine Sekunde lang hinter den Wolken hervor, und ein herrliches Glühen erfüllte das weite Land, erhellte das Farn- und das Heidekraut. »Nur noch um diese Biegung, es ist gleich hinter diesen Felsen«, sagte Lynton, und als wir um die letzte Biegung kamen, schnappte ich vor Überraschung nach Luft. Am Ende der schmalen Schlucht stürzte ein Wasserfall wie ein Vorhang aus reinem Licht, beständig sich bewegend und doch immer der gleiche, die steile Klippe herab. Er war so filigran und dennoch machtvoll – Licht, Wasser und Geräusch verbanden sich in vollkommener Harmonie. Es war ein Wunder, genau wie Lynton gesagt hatte.
»Das ist wunderschön.«
»Ich habe dir gesagt, dass es sich lohnt. Und wir können noch weiter gehen, die Klippe ganz nach oben.« Er ging voraus, führte mich über die glitschigen Felsen, die nass von der Gischt am Fuß der Wasserfälle waren. Ein paar Stufen waren grob aus dem Granit gehauen worden, und wir kletterten vorsichtig neben dem Vorhang aus
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