Das Geheimnis Des Amuletts
nur Glück war. Hatte Mr. Brooke irgendwie gewusst, dass wir einander brauchten? Ich hatte immer geglaubt, dass die Chancen, die einem das Leben bot, in einem verschlungenen Muster miteinander verbunden waren. Es kam mir so vor, als würden die Leute in das Leben anderer hinein- und wieder aus ihm herauswandern, als Teil irgendeines großen Ganzen, wie Vögel, die in bestimmten Formationen über den Himmel flogen.
Ich hatte Sarah und Evie immer noch nichts davon erzählt, dass ich Lynton überhaupt kennengelernt hatte. Ich flüchtete mich weiter in Entschuldigungen, die mit meinem Kunstprojekt für Miss Hetherington zusammenhingen – und die, wie ich hoffte, meine Abwesenheit genügend erklärten, wenn ich die Korridore zu dem kleinen Übungsraum entlanglief, um mit Lynton zusammen zu sein. Danach war ich mir nicht einmal mehr sicher, worüber er und ich gesprochen hatten, nur dass ich bei ihm niemals Angst hatte oder mir dumm oder verrückt vorkam. Lynton erzählte nicht viel über sein Leben in St. Martin’s, nur, dass er dort Musik lernte, natürlich. »Ich glaube, Musik hat die Kraft zu heilen, findest du das nicht auch, Helen?«, fragte er und sah mich mit seinem festen Blick an.
»Ich kannte jemanden …«, antwortete ich und unterbrach mich dann. Ich wollte nicht zu viel sagen.
»Jemanden, der …?«
»Oh, jemanden, der heilen konnte«, sagte ich und versuchte, von dem Thema wegzukommen. Aber er ließ nicht locker.
»Und hat er dich geheilt?«
»Wieso denkst du, dass ich Heilung benötigen würde?«
Er zögerte. »Ich habe es dir schon mal gesagt, ich habe das Gefühl, dass du lange Zeit sehr unglücklich warst.«
»Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen«, erklärte ich kurz angebunden. »Es war nicht gerade toll. Ich habe allerdings überlebt.«
»Ja, du bist eine Überlebende. Du bist sehr viel stärker, als du denkst. Du hast immer weiter und weiter gekämpft, nicht wahr? Aber möchtest du nicht aufhören, dich immer weiter so anzustrengen, Helen? Ist es nicht an der Zeit, um Hilfe zu bitten?«
»Was meinst du damit? Einen Arzt oder sowas? Ich bin nicht krank, egal, was sie sagen.«
»Ich weiß. Ich dachte mehr an jemanden, mit dem du die Dinge teilen kannst.« Dann wandte er sich ab; er wirkte jetzt etwas verlegen. »Tut mir leid. Ich wollte nicht in dich dringen. Ich bin mir sicher, dass du bereits gute Freunde hast. Tut mir leid.«
»Du musst dich nicht entschuldigen, wirklich nicht.«
»Es ist nur, dass ich dir gern helfen möchte, auch wenn das Konzert vorbei ist. Ich möchte dein Freund sein.«
»Ich … ich möchte das auch«, sagte ich.
»Gut.« Seine Augen waren wieder klar und blau, und er nahm seine Flöte in die Hand. »Gut! Dann lass uns jetzt diese Eröffnungssequenz versuchen, ja?«
Und so sangen und spielten wir und beobachteten einander, und jedes Mal, wenn wir uns trafen, fühlte ich mich ihm näher als zuvor.
Zweiundzwanzig
Aus dem Tagebuch von Helen Black
18. Oktober
Es kommt mir seltsam vor, dass ich Sarah und Evie nichts davon erzählt habe, aber ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. »Nur ein einziger Junge hat die Erlaubnis, nach Wyldcliffe zu kommen, und Mr. Brooke hat gesagt, dass ich mit ihm beim Konzert singen muss, und Lynton mag mich, er hält mich für wundervoll …« Es klingt so bizarr, wie die lächerlichen Phantasien eines einsamen Mädchens, als hätte ich mir besondere Mühe gegeben, mich Lynton vor die Füße zu werfen. Das habe ich nicht getan – das schwöre ich dir, Wanderer. Ich würde so etwas niemals tun. Und wenn du hier wärst, hätte ich niemals …
Aber du bist nicht hier. Ich weiß, dass du nicht zurückkommst. Du bist ein Traum, eine Erinnerung. Lynton ist echt. Vergib mir. Ich will nicht mehr in Träumen leben.
Lynton sagt, dass er eine besondere Erlaubnis von St. Martin’s hat, an den meisten Abenden nach dem Ende seiner anderen Unterrichtsstunden herzukommen und mit Mr. Brooke zu üben und sich auf das Konzert vorzubereiten. Aber er sagt, dass er jetzt vor allem meinetwegen kommt.
Bin ich dumm? Bin ich das?
Seine Musik ist so zart und echt wie ein Meeresseufzen. Ich wollte nie wirklich für jemanden singen außer für mich selbst und – in unseren Liedern – für meine Schwestern, aber jetzt … jetzt fühle ich mich so frei, wenn er seine Flöte spielt und wir zusammen Musik machen. Danach allerdings, wenn er nicht mehr hier ist, kann ich nicht verhindern, dass ich den nagenden Zweifeln lausche, die mir einflüstern
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