Das Geheimnis Des Amuletts
wollen, dass Lynton sich nur über mich lustig macht, dass er sich einen kleinen Flirt mit mir gönnt, um sich an den langweiligen Tagen in der Schule ein bisschen die Zeit zu vertreiben, und dass er nach St. Martin’s zurückkehrt und sich über mich kaputtlacht.
Ich glaube das nicht wirklich. Ich kann es einfach nicht glauben.
Ablenkung, Sumpflichter, Märchen … Happy Ends?
Nein, sei nicht albern, Helen. Hoffe nicht zu viel.
Ich lief nach dem Frühstück zum Schlafsaal hoch, um mir ein Buch zu holen, das ich vergessen hatte, als ich hörte, wie Lynton meinen Namen rief. Ich blieb überrascht mitten auf der Marmortreppe stehen und drehte mich um. Er stand da in der schwarzweiß gefliesten Eingangshalle neben dem Gemälde von Agnes.
»Helen! Ich habe nach dir gesucht.«
Zwei junge Mädchen aus der untersten Klasse kicherten und flüsterten »Das ist ihr Liebster «, während sie an mir vorbeirannten. Ich achtete nicht auf sie und lief dahin zurück, wo Lynton auf mich wartete.
»Was tust du so früh hier?«, fragte ich.
»Ich bin gekommen, um dich zu sehen, was sonst?«
»Aber ich muss in den Unterricht!«
»Nein, musst du nicht. Ich habe von Miss Hetherington die Erlaubnis bekommen, heute Morgen mit dir zusammen nach Wyldford Cross zur Kathedrale zu fahren, um dort den Chor anzuhören. Der Chor hat einen hervorragenden musikalischen Ruf, und ich habe Miss Hetherington gesagt, dass es wirklich hilfreich für deine Vorbereitung des Stückes für Lady Agnes’ Gedenkfeier wäre. Sie hat mir wunderbarerweise zugestimmt und erlaubt, dass ich mit dir dorthin fahre. Wenn du also deinen Mantel holst, können wir sofort los.«
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Einen ganzen Morgen frei von Wyldcliffe zu sein – und einen ganzen Morgen mit Lynton zusammen zu sein. Die einzigen Gewissensbisse, die ich hatte, galten Sarah und Evie, die ich zurückließ. Aber wenn ich ihnen sagte, wohin ich ging, hätte ich ihnen auch sagen müssen, mit wem ich dorthin ging, und ihnen von Lynton zu erzählen kam mir immer schwieriger vor.
Fünf Minuten später stieg ich in ein niedriges schwarzes Auto, das ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Lynton erzählte, dass St. Martin’s es ihm geliehen hätte, damit er leichter zu seinen Unterrichtsstunden bei Mr. Brooke nach Wyldcliffe gelangen konnte. Schon bald sausten wir über die Landstraßen, entfernten uns mehr und mehr von der Schule und dem Dorf und allem, was gewöhnlich meinen Horizont begrenzte. Wir fuhren über wenig benutzte Straßen, die sich durch das Hochmoor bis zu der alten Stadt Wyldford Cross wanden. Letztendlich führte die Straße bis hinunter zum Meer, aber so weit war ich noch nie gewesen. Das Meer – ich dachte an Evie und wie sehr sie ihr Zuhause am Meer vermisste, und ich hatte das Gefühl, als könnte ich Agnes’ graue Augen am ebenso gefärbten, stürmischen herbstlichen Himmel sehen.
Agnes , bat ich im Stillen, wache über uns. Sei bei uns, wenn wir uns auf die Suche nach Laura machen. Aber bis dahin , flüsterte eine andere Stimme in meinem Kopf, bis dahin lass mich alles außer dem Beisammensein mit Lynton vergessen, lass mich frei sein. Und so plauderte ich und lachte ich, während wir dahinfuhren, und jeder dunkle Gedanke, jede Sorge wurde in den Abgrund zurückgestoßen. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten wir die Außenbezirke von Wyldford Cross. Wir passierten die vornehmen Gebäude und Sportplätze der St. Martin’s Academy und fuhren weiter zur Stadtmitte, wo schöne alte Häuser sich um den Marktplatz scharten, sich an Pubs und Läden und schmale Gassen drängten. Am anderen Ende des Platzes ragte der Turm der Kathedrale hoch in den Himmel, streckte sich dem großen Jenseits entgegen.
Wir parkten das Auto und betraten die Kathedrale. Eine Gruppe von Gläubigen, hauptsächlich ältere Leute und ein paar Touristen, die sich die Füße wundgelaufen hatten, hockten auf den hölzernen Kirchenbänken. Der Chor hatte sich rund um den kunstvoll verzierten Altar herum aufgestellt, und die Stimmen schwebten wie Engel durch das im dämmrigen Licht liegende Kirchenschiff. Es klang wunderschön und entrückt, doch auch wenn ich das Können der Chorsänger bewunderte, berührte mich dieser Gesang nicht so, wie mich Lyntons einfache Melodien auf seiner Flöte berührten. Es war kein Herz in ihm – da war nichts weiter als Kunst und Zierde und die schwere Bürde einer langen Tradition. Ich war froh, als der Gottesdienst vorüber war und ich die Kirche
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