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Das Geheimnis Des Amuletts

Das Geheimnis Des Amuletts

Titel: Das Geheimnis Des Amuletts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Shields
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herabstürzendem Wasser entlang, kamen höher und höher. Das Tosen des über die Felsen stürzenden Wasserfalls kam mir so vor, als würde die Erde ihr geheimes eigenes Lied singen. Dann traten wir auf einen glattgeschliffenen Absatz aus nassem Gestein, der hinter dem Wasservorhang aus der Klippe ragte, und ich stand da, starrte das Wunder vor mir an. Das Wasser verbarg uns vor der Welt da draußen, und Licht glitzerte und tanzte überall um uns herum, wie ein lebender Regenbogen. »Hier würde uns niemals jemand finden«, sagte Lynton fröhlich. »Sollte das Leben nicht genau so sein? Alles ist in Harmonie. Hast du nicht auch das Gefühl, du könntest einfach durch den Wasservorhang hindurchtreten?«
    Ich sog rasch und scharf die Luft ein. Lynton hatte genau das gesagt, was ich gerade insgeheim dachte. Wie gerne hätte ich die Geister der Luft beschworen, um auf dem Rücken des Windes durch die feine Gischt zu tanzen und atemlos über den Hügeln zu schweben … wusste er etwas, das er mir nicht sagte? Ich versuchte, meine Verwirrung hinter einer oberflächlichen Antwort zu verbergen.
    »Und auf den Steinen zerschellen?«
    »Nein.« Lynton sah mich mit einem seltsamen Blick an. »Ich habe das Gefühl, als könnten wir einfach einen Schritt nach vorn machen und fliegen. Du nicht?«
    Zu fliegen … frei zu sein, und doch zusammen …
    »Hör zu, Helen«, sagte er sanft. »Das hier ist meine Kathedrale. Es ist, als würde die ganze Welt nur für uns singen und uns ihre Geheimnisse verraten. Wenn ich jemals in Schwierigkeiten stecken würde – wenn ich jemals Zeit bräuchte –, würde ich genau hierher kommen.«
    Lynton streckte die Hand aus und berührte den Wasservorhang. Als er sich um seine Finger herum teilte, erhaschten wir einen Blick auf die wilde Schlucht unter uns, und das Licht auf jedem strahlenden Tropfen zerplatzte in tausend schillernde Farben. Ich lachte vor Freude und streckte die Hände aus, um das Gleiche zu tun.
    Ich weiß nicht genau, was als Nächstes geschah. War es die große Aufregung, ein Schwindel, herbeigeführt vom Licht und dem allgegenwärtigen Rauschen – ich weiß es nicht, aber ich rutschte auf dem nassen Absatz aus, stürzte nach vorn und verlor den Boden unter den Füßen. Ich fiel – und bevor ich reagieren konnte, erhaschte ich aus dem Augenwinkel einen Blick auf etwas Weißes, Schimmerndes – etwas Weiches strich über mich hinweg, und im nächsten Moment hatte Lynton seine Arme um mich geschlungen und zog mich zurück und in Sicherheit. Aber dann trat er rasch einen Schritt von mir weg, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen.
    »Komm«, sagte er abrupt. »Gehen wir wieder runter. Du zitterst ja.«
    »Nein, es geht mir gut. Es war einfach nur dumm von mir. Danke, dass du mich festgehalten hast. Normalerweise bin ich nicht so ungeschickt.«
    Ja, ich zitterte – aber nicht aus Angst davor abzustürzen. Es war die Weichheit, mit der er mich festgehalten hatte, als ich ausgerutscht war, und Lyntons Reden vom Fliegen, das intensive Licht in seinen Augen, die Ergriffenheit in seinem Gesicht, die Berührung seines Körpers – alles das brachte mich zum Zittern. Ich hatte das Gefühl, einem Geheimnis ganz nahe zu sein, dem Schlüssel zu allem.
    Aber dann erstarb die Gewissheit. Lynton geleitete mich die Stufen in der Klippe hinunter, brachte mich zum Auto zurück und holte ein paar Sandwiches hervor, die ich essen sollte. Er machte Witze, war wieder ganz und gar normal. Wir hatten uns auf den Weg gemacht, eine sehr schöne Stelle anzusehen, ich war einen Moment lang benommen gewesen – das war alles. Kein Wunder.
    Auf dem Rückweg nach Wyldcliffe sprachen wir nicht viel. Lynton wirkte müde, und ich sah feine Linien um seine Augen, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Ich fragte mich, ob die anderen Jungen von St. Martin’s so ähnlich waren wie er, und ich erkannte, dass er mir noch rein gar nichts über seine Freunde erzählt hatte oder darüber, was er tat, abgesehen von seinen Musikstunden.
    »Also, wie ist es in St. Martin’s?«, zwang ich mich ihn zu fragen.
    »Oh, es ist eine gute Schule. Sehr auf Tradition bedacht, sehr englisch – es gibt Kricket und Rugby, und sie bringt echte Gentlemen hervor.«
    »Bist du ein Gentleman?«
    Er lachte. »Ich bin nur auf der Durchreise. Sie werden keine Zeit haben, mich in irgendetwas zu verwandeln, das ich nicht bin.«
    Ich schwieg. Lynton hatte offensichtlich nicht vor, lange zu bleiben. Aber ich war an Wyldcliffe gebunden,

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