Das Geheimnis des Falken
wußte nichts mehr von Angstgefühlen. Ich war erwählt für etwas, das nun seinen Gang gehen mußte. Die Entscheidung war gefallen. Ich lief zum Wagen hinüber, und tatsächlich war Jacopo zu Stelle. Ich hatte ihn nicht bemerkt, als der Ferrari auf den Platz gebraust kam, aber offenbar war er die ganze Zeit da gewesen.
»Ich fahre mit ihm«, sagte ich.
»Ja, Signor Beo«, sagte er, und in seinem Blick lag ein Ausdruck, den ich nie zuvor an ihm gesehen hatte. Erstaunen, sicherlich, aber auch Respekt und sogar Bewunderung.
»Ich bin Herzog Claudio«, sagte ich, »und Aldo ist mein Wagenlenker.«
Er sagte nichts, sondern öffnete stillschweigend den Schlag, reichte mir das Gewand, half mir, es anzuziehen, und legte mir den Gürtel um. Dann gab er mir die Perücke, die ich über mein gestutztes Haar zog.
Als ich in den Spiegel schaute, sah ich den Riß an meinem Mund, der von Aldos Schlag herrührte. Das Blut war inzwischen getrocknet.
Die blonde Perücke umrahmte mein bleiches, unrasiertes Gesicht, und meine Augen starrten mich aus dem Spiegel mit dem gleichen Ausdruck an, mit dem Claudio aus dem Gemälde im Palazzo Ducale blickte. Aber zugleich waren es auch die Augen des Lazarus in der Kirche San Cipriano.
Ich drehte mich zu Jacopo um: »Wie sehe ich aus?« fragte ich. Er zögerte, vermutlich aus Höflichkeit. Daß er je eines der beiden Bilder gesehen hatte, schien mir zweifelhaft. Er wollte wohl vermeiden, daß ich mir lächerlich vorkam. So betrachtete er mich mit ernster Miene, wobei er den Kopf ein wenig schief legte. »Sie sehen genau wie Ihre Mutter, Signora Donati, aus«, erwiderte er schließlich.
Er meinte es nett, aber es war die schlimmste Beleidigung für mich. Die Demütigungen all der vielen Jahre wurden wieder wach. Die alberne Figur, die jetzt zum Wagen zurücktrappelte, war nicht Herzog Claudio, war nicht der Falke, den sie darstellen sollte, sondern das vogelscheuchenhafte Abbild der Frau, die ich zwanzig Jahre lang verurteilt und verachtet hatte.
Ohne mich zu rühren, ließ ich mich von Aldo mittels der Sicherheitsgurte an den Wagen fesseln.
Dann band er sich selbst fest. Die Pferdeknechte reichten ihm die Hauptzügel des Mittelgespanns und die der beiden Spitzenpferde. Dann gaben sie die Kandaren frei, während Aldo das Gewirr der übrigen Zügel ergriff. Die Pferde fühlten die Spannung und sprangen an. In der Ferne schlug es zehn vom Campanile, und dann kam von allen Kirchen in Ruffano das Echo. Die Flucht des Falken hatte begonnen.
23. Kapitel
In stolzer Gemessenheit umkreisten wir zunächst den Platz – feierlich, als handelte es sich um des Kaisers Trajan triumphalen Einzug ins alte Rom. Die acht Spitzenpferde schwenkten in Vierergruppen, dem Zügel gehorchend, rechts ein, und dann folgten auch die zehn übrigen der Wendung, ein Manöver, das der langsamen Entfaltung eines riesigen Fächers glich.
Die Straßen, die in die Piazza mündeten und von der Polizei abgesperrt waren, standen voller Menschen, und während wir langsam an ihnen vorüberfuhren, schwoll der anfängliche Seufzer aus Staunen und Verblüffung an zu einem einzigen Schrei aus ungezählten Kehlen, und dann setzte der Beifall ein. Das Klatschen der erhobenen Hände klang wie das Rauschen von Tausenden von Schwingen.
Die achtzehn Pferde blieben ruhig unter dem donnernden Applaus. Gelassen bewegten sie sich weiter. Der blankpolierte Metallschmuck auf den Geschirren glitzerte in der Morgensonne, und das klingelnde Zaumzeug produzierte eine herausfordernde Begleitmusik zum Tumult der Menge. Es war kein Pferdegetrappel zu hören, denn sämtliche Hufe waren mit Gummiüberzügen versehen, die ihr Klappern zu einem merkwürdig erstickten Geräusch herabdämpften, diskret wie das Rollen unserer Räder.
Zweimal fuhren wir um die Piazza herum. Zweimal schwenkten die achtzehn Pferde ein und richteten sich wieder aus. Dann kamen die Knechte heran, nahmen die Pferde beim Zügel und führten sie dorthin, wo die Piazza am breitesten war.
Wir wendeten noch einmal und hielten damit direkt vor der Via Carlo, die hügelabwärts in die Innenstadt führte. Die Zügel und Stränge wurden ein letztesmal überprüft und die Gurte der Mittelpferde zurechtgerückt.
Die Pferdeknechte nahmen sich Tier um Tier einzeln vor und erstatteten Aldo jeweils Bericht. Die Prozedur dauerte ungefähr vier Minuten, und in dem kurzen Augenblick, bevor Aldo die Zügel packte und die Pferdeknechte auf beiden Seiten zurücksprangen, glaubte ich auf dem
Weitere Kostenlose Bücher