Das Geheimnis des Feuers
sie jetzt angekommen seien. Lydia schüttelte den Kopf.
»Wie sollten wir hier leben können?«, fragte sie. »Wie sollten wir etwas zum Wachsen bringen im Sand? Wie sollten wir im Meer pflanzen? Wir müssen weiter.«
Das Meer vergaß Sofia nie.
Als sie am nächsten Tag ihre Wanderung ins Landesinnere fortsetzten, schaute sie noch oft zurück, um das Wasser zu sehen, das kein Ende zu haben schien.
Nach einer langen Zeit erreichten sie ein Dorf, in dem Lydias Mann Hapakatanda entfernte Verwandte hatte. Der Anführer des Dorfes, ein alter Mann, der fast blind war, übermittelte ihnen die Botschaft, dass sie bleiben dürften. Sie bauten eine kleine Hütte aus Stroh und Lehm am Rande des Dorfes und morgens gingen Lydia, Sofia und Maria mit den anderen Frauen zur Arbeit auf die Felder. Doch eines Tages kam ein Mann angelaufen und erzählte, dass ein Nachbardorf in der letzten Nacht von den Banditen überfallen worden war. Am selben Nachmittag flohen alle aus dem Dorf und sie nahmen nur ihre Ziegen mit. Mehr als einen Monat versteckten sie sich aus Angst, die Banditen könnten sie finden. Sie hatten fast nichts zu essen und ernährten sich von Wurzeln, Eidechsen und Mäusen, die sie fingen. Währenddessen wurde Alfredo sehr krank. Sofia glaubte, dass auch er sterben müsste. Wenn ein Kind vor Kälte zu zittern begann, obwohl die Sonne heiß brannte, dann wusste sie, dass der Tod begonnen hatte, dem Kind seinen gefährlichen Atem durch die Nasenlöcher einzublasen. Aber Alfredo wurde wieder gesund.
Als die Dorfbewohner beschlossen, in ihr altes Dorf zurückzukehren, sagte Lydia, dass sie nicht mitkommen würden, sie wollten ihre Wanderung fortsetzen.
»Wohin wollen wir?«, fragte Sofia.
»Dorthin, wo es keine Banditen gibt.«
»Wo ist das?«
»Ich weiß es nicht. Frag nicht so viel.«
Die ganze Zeit fürchtete Sofia, ihre Mama könnte dasselbe machen wie die alte Frau. Sich auf die Erde setzen und zu einer Baumwurzel erstarren. Dann wäre Sofia allein mit Maria und Alfredo und sie wusste nicht, wie sie wieder nach Hause finden sollte. Jeden Abend, wenn sie ihr Lager einrichteten, beobachtete Sofia ihre Mutter heimlich. Würde sie sich hinsetzen und erstarren? Sofia dachte daran, dass sie umgeben war von Angst. Banditen gab es hinter ihnen genauso wie vor ihnen. Wenn Lydia sich an dem einen Nachmittag nicht hingesetzt hatte und erstarrt war, bedeutete das keine Erleichterung für Sofia. Dann müsste sie eben fürchten, es könnte am nächsten Tag geschehen. Aber es geschah nie.
Eines Tages war auch die lange Wanderung zu Ende. Sie kamen zu einem Dorf, in dem nur Menschen wohnten, die vor den Banditen geflohen waren. Sie sprachen verschiedene Sprachen. Ein weißer Mann, der Pfarrer war, sah sie traurig an. Mit Hilfe eines Mannes aus dem Dorf, der dieselbe Sprache wie Lydia sprach, konnte sie erklären, von wo sie geflohen waren. Sie erzählte von der Nacht, in der die Banditen gekommen waren um zu plündern, zu brandschatzen und zu morden.
»Auch die Hunde«, sagte Sofia. »Sie haben auch unsere Hunde getötet.« Zum zweiten Mal bauten sie eine Hütte aus Stroh und Lehm an einem Hang. Dort unten schlängelte sich ein Fluss. Am ersten Abend, als sie wieder unter einem Dach schlafen konnten, lag Sofia da und schaute hinaus in die Dunkelheit. Sie merkte, dass Maria, die neben ihr lag, auch noch nicht schlief.
»Hier werden wir wohnen«, flüsterte Sofia.
»Warum kommen die Banditen nicht hierher?«, fragte Maria.
»Vielleicht haben sie noch nicht hergefunden«, antwortete Sofia.
»Denk nur daran, wie viele Tage wir gewandert sind. Unsere Füße sind geschwollen und voller Wunden.«
»Die Banditen haben vielleicht Schuhe«, sagte Maria und Sofia merkte, dass sie Angst hatte.
»Ich glaube nicht, dass Monster Schuhe haben«, sagte sie. »Wir werden hier wohnen. Nichts wird geschehen.«
Maria kroch näher zu Sofia heran. Sie spürte, wie die Wärme von Marias Körper auf sie überging. Hier werden wir leben, dachte sie. Aber meinen Vater Hapakatanda werde ich nie wieder sehen. Oder all die anderen, die meine Freunde, meine Familie waren. Auch die Hunde werde ich nicht wieder sehen. Plötzlich merkte sie, dass sie weinte. Es war, als ob sie erst jetzt all die Trauer spüren konnte, die sie mit sich herumtrug. Wenn all diese Trauer, die sie spürte, in einem Korb läge, den sie auf dem Kopf tragen musste, dann würde sie zusammenbrechen. Für einen so schweren Korb war sie zu klein. Dennoch wusste sie, dass sie ihn
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