Das Geheimnis des Feuers
sei. Sofia sagte nichts. Sie wusste, dass Lydia nie sehr lange böse war. Aber weder Sofia noch Maria vergaßen, worüber sie neben der Wanne gesprochen hatten. Eines Tages würden sie nach Hause zurückkehren. Keine von ihnen durfte das Versprechen brechen.
Sie hatten ihre Hütte gebaut und sie hatten ein neues Zuhause. Aber alles war lange Zeit ungewohnt und fremd.
Sofia fand es schwer, in einem Dorf zu leben, in dem nicht alle einander schon lange kannten. Oder dieselbe Sprache redeten. Anfangs waren sie und Maria schüchtern gegenüber den anderen Kindern. Aber sie hatten Glück. Denn sie fanden fast sofort einen Freund, einen Jungen, der Lino hieß und einige Jahre älter war. Er wohnte in einer Hütte in ihrer Nähe an dem staubigen Weg, der zu dem Haus führte, in dem der weiße Pfarrer und die beiden Nonnen wohnten.
Lino redete dieselbe Sprache wie Maria und Sofia. Er war groß und mager. Aber das Merkwürdige an ihm war, dass seine beiden Augen über Kreuz sahen. Er konnte Maria und Sofia gleichzeitig ansehen. Eines Tages hatte er vor ihrer Hütte gestanden, es war ein Sonntag, an dem sie nicht draußen auf den großen Feldern arbeiteten, wo Mais und Gemüse angepflanzt wurden. Er trug genauso zerrissene Kleider wie alle anderen. An einem Fuß trug er einen Schuh. Da er nur einen Schuh besaß, hatte er sich auf den anderen Fuß einen Schuh gemalt. Lydia war weggegangen. Sie wollte versuchen ein Stück Seife gegen einen Korb einzutauschen, den sie an den Abenden geflochten hatte. Maria und Sofia waren allein zu Hause und passten auf Alfredo auf.
»Wie könnt ihr euch so ähnlich sehen?«, fragte Lino. »Ihr könnt euch ja ineinander spiegeln.«
Sofia dachte, sie müsste etwas antworten. Aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Wie kann man gleichzeitig in zwei Richtungen sehen?«, fragte sie schließlich.
»Das ist mein Geheimnis«, antwortete Lino. Dann erzählte er, dass er zusammen mit einer Tante und einem Onkel ins Dorf gekommen war. Seine Eltern waren von den Banditen bei einem Überfall weit, weit weg gekidnappt worden. Er wusste nicht einmal, ob sie noch lebten. Maria erzählte, was in ihrem Dorf geschehen war.
»Wir haben das Meer gesehen«, sagte Sofia. »Hast du das Meer schon einmal gesehen?«
Lino schüttelte den Kopf. »Eines Tages werde ich durch die ganze Welt reisen«, sagte er. »Und ich werde doppelt so viel sehen wie alle anderen.«
Dann erzählte er ihnen von der Schule. Der weiße Pfarrer und die beiden Nonnen unterrichteten die Kinder im Dorf. Sie wollten, dass alle Kinder jeden Tag kamen, damit sie lesen, schreiben und rechnen lernten.
»Wir haben kein Geld«, sagte Sofia, die gern zur Schule gegangen wäre. »Wir müssen unserer Mutter helfen und arbeiten«, sagte Maria.
»Es kostet kein Geld«, sagte Lino. »Denkt ihr, ich habe Geld? Warum sollte ich mit nur einem Schuh herumlaufen, wenn ich Geld hätte?«
»Es geht trotzdem nicht«, sagte Maria. »Wir müssen arbeiten. Was sollten wir sonst essen?«
»Die Schule findet nur nachmittags statt«, sagte Lino. »Jeden Tag drei Stunden. Ich kann schon fast lesen.«
Nachdem Lino gegangen war, saßen sie im Schatten auf der Rückseite des Hauses. »Ich glaube, er hat gelogen«, sagte Maria. »Eine Schule kann nicht kostenlos sein. Außerdem haben wir nur zerrissene Kleider. Ich glaube nicht, dass man in zerrissenen Kleidern zur Schule gehen kann.«
»Hauptsache ist ja wohl, man ist nicht schmutzig«, sagte Sofia. »Ich glaube nicht, dass er gelogen hat. Warum sollte er das tun?«
»Es geht jedenfalls nicht«, sagte Maria. »Wir müssen Lydia helfen. Wer soll sich um Alfredo kümmern, wenn wir in der Schule sind? Wir können ihn nicht dorthin mitnehmen.«
»Vielleicht könnten wir jeden zweiten Tag hingehen«, sagte Sofia zögernd.
»Und nur jeden zweiten Buchstaben lernen«, sagte Maria, »jede zweite Zahl?«
Sie diskutierten weiter hin und her. Dabei vergaßen sie Alfredo ganz. Keine hatte je davon träumen können, in die Schule gehen zu dürfen. In dem Dorf, in dem sie früher mit Hapakatanda, Muazena und allen Verwandten und Freunden gelebt hatten, gab es keine Schule. Nur der Schreiber des Dorfes, der auf eine Missionsschule gegangen war, konnte schreiben und lesen. Er war es, der alle Briefe schrieb, wenn jemand im Dorf einen Brief schreiben musste, er las die verschiedenen Bekanntmachungen vor, die vom Gouverneur oder von einer anderen wichtigen Person kamen. Sollte es wirklich möglich sein, dass sie in die
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