Das Geheimnis Des Frühlings
den Unterkünften der Brüder führten. Ein steinerner Brunnen, über den sich ein knorriger Baum beugte, als wollte er in die Tiefe spähen, markierte die Mitte der Fläche. Der hoch gewachsene Mönch zog mich in eine Türöffnung, schützte mich mit seinem Körper vor etwaigen neugierigen Blicken und flüsterte mir Anweisungen zu. »Signorina, Ihr müsst hier warten«, zischte er. »Dies ist die Tür zu meiner Zelle, aber ich kann Euch nicht mit hineinnehmen, es würde... unschicklich wirken. Aber im Freien könnt Ihr auch nicht bleiben. Haltet Euch im Schatten, während ich meinen Nachbarn wecke - Bruder Remigio, den Bibliothekar, von dem ich Euch erzählt habe.«
Ich wusste, dass dies nicht der geeignete Zeitpunkt für eine bissige Bemerkung war, also hielt ich den Mund und presste mich so fest wie möglich gegen den Türpfosten. Gewisse Teile von mir ragten zwar ein wenig hervor, aber wenn nicht gerade jemand hinein- oder hinausgehen wollte, würde mich niemand bemerken, und da mich Bruder Guido bereits darauf hingewiesen hatte, dass dies seine Zelle war, befand ich mich erst einmal in Sicherheit. Also wartete ich.
Und wartete.
Das harte Holz bohrte sich in meinen Rücken, und ich begann mich zu winden. Ich zählte erst meine Herzschläge, dann mit der Zunge meine Zähne. Ich sang im Geiste alle zotigen Lieder, die ich kannte, dann sagte ich alle mir bekannten Gebete auf, was wesentlich weniger Zeit in Anspruch nahm. Meine Glieder erstarrten allmählich, und als er immer noch nicht zurückkam, war ich gezwungen, mich von der Tür zu lösen, Arme und Beine auszuschütteln und mit dem Kopf zu wackeln, als litte ich unter Schüttellähmung. Tausende von Nadeln schienen sich in meinen Körper zu bohren, als das Blut in meine verkrampften Muskeln zurückströmte. Da Bruder Guido noch immer nicht zurückkam, legte ich den Kopf in den
Nacken, wobei mein Blick auf eine runde Steinscheibe über der Tür fiel, die ein gemeißeltes Relief zeigte.
Es war ein großer, aus übereinander erbauten Bögen und Säulen bestehender Turm, der sich in einem seltsamen Winkel nach rechts neigte. Ich kannte ihn natürlich, denn es hieß, der große Kampanile in Pisa, der erst vor kurzem fertiggestellt worden war, weise eine beachtliche Schräglage auf und erwecke den Eindruck, als würde er jeden Moment umkippen. Die Meinungen der Florentiner bezüglich des Wahrheitsgehaltes dieser Geschichte waren geteilt. Einige, wie ich selbst, hielten sie für frei erfunden; für eine armselige Lüge seitens der Pisaner, mittels derer sie versuchen wollten, ihre im Schatten ihres großen Nachbarn Florenz stehende Stadt aufzuwerten. Andere, die behaupteten, den Turm mit eigenen Augen gesehen zu haben, zuckten nur die Achseln und meinten, man könne von den Pisanern nichts anderes erwarten, da sie ja noch nicht einmal dazu imstande seien, einen Misthaufen in einem Hof zu errichten. Ich wunderte mich darüber, dieses Bild hier vorzufinden, denn es war nicht gerade ein religiöses Symbol, doch dann erinnerte ich mich, dass Malachi Bruder Guido als Pisaner bezeichnet hatte. War die Steinmetzarbeit demnach ein Zeichen der Herkunft des Bewohners dieser Zelle? Das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass die Brüder sich die Mühe machten, die Zelle eines jeden Mönches mit einem Symbol seiner Heimat zu versehen. Aber ich befasste mich nicht länger mit diesem Rätsel, denn in meinem Kopf nahm ein anderer, wesentlich unangenehmerer Gedanke Gestalt an.
Er kam nicht zurück.
Er überließ mich eiskalt meinem Schicksal.
Ich stampfte ergrimmt mit dem Fuß auf und listete im Geiste alle Schimpfnamen für die Pisaner auf, die ich kannte. Als ich bei »Esel vögelnde Ketzerbande« angelangt war, hörte ich, wie die Zellentür des Bibliothekars geöffnet wurde und Bruder Guido in den Hof trat - allein. Ich zog mich rasch
in mein Versteck zurück, aber vermutlich wäre es ihm noch nicht einmal aufgefallen, wenn ich mitten im Freien gestanden hätte. Er hielt etwas Helles in der Hand und schüttelte den Kopf. »Bruder Remigio ist nicht da«, flüsterte er. »Aber diese hier - seine Flugschriften, unsere Flugschriften - lagen überall in seiner Zelle verstreut.«
Er hielt mir das Blatt hin. Ich erkannte es sofort als eins von denjenigen, die ich an diesem Tag bereits gesehen hatte, und mir gefror das Blut in den Adern.
Sie waren schon hier.
Sie wussten Bescheid.
Ich packte Bruder Guido drängend am Arm. »Wir
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