Das Geheimnis Des Frühlings
schluckte ich hart. Ich hatte oft gefürchtet, er könne sterben, aber nicht durch seine eigene Hand. Voller Entsetzen begriff ich, wie weit er sich von seinem Gott entfernt hatte. »Wie hast du überlebt?«, flüsterte ich.
»Ich dachte an die Primavera ; rief mir so viele Details ins Gedächtnis zurück wie möglich. Ich konnte sie vor meinem geistigen Auge sehen. Jeden Tag entfloh ich meiner Zelle und zog mich in den Orangenhain zurück, schlenderte zwischen den Figuren umher und unterhielt mich mit ihnen über Dante oder Boccacio. Ich konnte mich an jede Einzelheit erinnern, über die wir gesprochen haben; an jedes Blatt, jede Blüte, jeden Pinselstrich. Aber manche Figuren - die, mit denen wir uns noch nicht befasst hatten - blieben bloße Schatten, sie entkamen meiner Erinnerung wie Fische einem großmaschigen Netz. Aber andere«, er zögerte, »du zum Beispiel - sie waren so klar wie der junge Tag.«
Mir stieg das Blut in die Wangen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also wechselte ich hastig das Thema. »Und dann haben sie dich vor Gericht gestellt?«
Er wirkte sichtlich erleichtert. »Nein. Ein Wärter, mit dem ich mich angefreundet hatte, sagte mir, dass irgendetwas geschehen war. Er meinte, Lorenzo müsse rasch handeln und
wolle mich so bald wie möglich tot sehen. Schnelljustiz.« Seine Lippen verzogen sich ironisch.
Ich entsann mich, dass meine Mutter in Venedig einmal dasselbe Wort benutzt hatte und erkannte ihre Hand hinter dieser Entscheidung. Niccolo della Torre hatte zweifellos den Ehekontrakt unterzeichnet, denn ich erinnerte mich daran, dass er meinen Vater aufgesucht hatte. Er war auf alles eingegangen, was die Sieben von ihm verlangten, und sowie diese sich Pisas Kooperation sicher sein konnten, war Bruder Guido für sie nicht mehr von Nutzen. Bei dem Gedanken, wie nahe ich daran gewesen war, ihn zu verlieren, gefror mir das Blut in den Adern.
»Mir wurde eine letzte Bitte gewährt. Ich bat um einen Krug Chianti aus der Region um Pisa und zwei Becher, damit ich ihn mit meinem Freund teilen konnte. Noch während ich uns einschenkte, überlegte ich, ob ich das Belladonna in seinen oder meinen eigenen Becher geben sollte. Wie du siehst, hatte ich doch nicht ganz vergessen, dass ich einst ein Mann Gottes war.«
»Und hat Gott zu dir gesprochen?«, wisperte ich.
»Er nicht. Seit Rom hat er sich still verhalten und mich nicht einmal in meiner Zelle besucht. Ich habe meine Zeit mit den alten Göttern und der Primavera verbracht.«
»Wer denn dann?«
»Ich sprach mit mir selber. Und ich beschloss, das Leben eines Mannes gegen das unbekannte Unheil aufzuwiegen, das die Sieben planen, also vermischte ich seinen Wein mit dem Belladonna. Er starb sofort.« Bruder Guido sah auf seine Hände hinab, als erwarte er, Blut daran kleben zu sehen. »Er hatte eine Frau und Kinder. Er sprach oft von ihnen.«
So wie Bonaccorso Nivola. Also hatte Bruder Guido ebenfalls einen Menschen auf dem Gewissen. Jetzt wusste ich, dass diese Last und nicht der Gefängnisaufenhalt Spuren in sein Gesicht gegraben hatte. Und ich, die ich selbst schuldig wie Judas war, fragte mich, ob man mir gleichfalls ansah, was ich getan hatte.
»Und dann?«
»Ich brauchte drei Stunden, um den Schlüssel unter seinem Leichnam hervorzuziehen - ich lebte in ständiger Angst, ein anderer Wärter würde kommen, um ihn abzulösen, und dann würde man mich zum Hinrichtungsplatz führen. Aber noch ehe der Tag anbrach, war ich frei, machte mich auf den Weg nach Santa Croce und traf dort ein, als die Brüder gerade mit ihrem Tagewerk begannen. Malachi ließ mich ein. Ich ging geradewegs zum Herbarium, wo Bruder Nikodemus mich ein paar Wochen lang verbarg. Er sagte, er habe in Kontakt mit dir gestanden - ach ja, ich muss dir ja noch zu deinen neu erworbenen Schreibkünsten gratulieren.« Diesmal war sein Lächeln echt, das des alten Bruder Guido, dem Bücher und Buchstaben alles bedeuteten. Ich errötete, was mir nicht oft passiert, aber ich freute mich zu sehr über das Kompliment des einzigen Menschen, auf dessen Meinung ich je Wert gelegt hatte.
»Daher wusste ich, wo ich dich finden konnte. Bruder Nikodemus schmuggelte mich aus der Stadt heraus; er unternahm eine Reise nach Mantua, um dort Forschungen zu betreiben, und gab mich als seinen Gehilfen aus. Ich schloss mich einer Gruppe von Franziskanern an, die zu einem Kolloquium nach Trento wollten. Am Fuß der Berge trennte ich mich von ihnen, und die guten Brüder überließen mir
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