Das Geheimnis Des Frühlings
noch das Maultier, das ich ritt. In Marghera ging ich an Bord einer Fähre und kam nach Venedig. Dort fand ich bei Jesuiten Unterschlupf, die auf der Insel Guidecca ein Kloster bauten. Ich half ihnen bei der Arbeit und durfte dafür bei ihnen wohnen, und während meiner Freizeit hatte ich Gelegenheit, dir zu folgen.«
Mir wurde heiß. »Du hast mich gesehen?«
»Oft, aber immer nur zusammen mit deiner Mutter, niemals allein. Ich dachte mir, der Karneval wäre die günstigste Gelegenheit, dich anzusprechen - es würde in dem ganzen Trubel am wenigsten auffallen.«
Der Gedanke, die Karnevalszeit zu nutzen, war mir ebenfalls gekommen. Ich fröstelte, als mir klar wurde, dass ich am Abend desselben Tages hatte fliehen wollen, an dem er beabsichtigt
hatte, zu mir zu kommen. Bonaccorsos Opfer war umsonst gewesen. Ich brachte keinen Ton heraus, aber mein Freund sprach schon weiter.
»Ich habe dich auf der Piazza San Marco gesehen. Der Sturm zog auf, und ich folgte dir in die Basilika. Als ich sah, wie du die Bronzepferde untersuchtest, wusste ich, dass du etwas entdeckt haben musstest. Ich erinnerte mich an das, worüber die Sieben in Rom gesprochen hatten - dass Flora das Geheimnis hütete - und an die Karte, die mehrmals erwähnt wurde. Ich nahm an, dass du diese Karte gefunden hattest, aber mir blieb nur die Zeit, dir zu sagen, du solltest sie sicher verwahren, bis wir uns in Mailand treffen würden. Dank meiner Grübeleien im Gefängnis wusste ich, dass die Botticelli-Figur Mailand verkörpern musste, aber die Bedeutung des Zephyr war mir ein Rätsel. Ich nehme an, dir sind in Venedig auch ein paar Erleuchtungen gekommen?«
Jetzt war ich an der Reihe. Ich erzählte ihm von meiner Zeit in Venedig, von der Geschichte meiner Mutter, meiner Reise als Säugling in der Flasche, von meinem Vater, Signore Cristoforo und meinen Unterrichtsstunden bei ihm. Nur eines verschwieg ich ihm - meinen Fluchtversuch und Bonaccorso Nivolas Schicksal.
Ich war noch nicht bereit, ihm diese furchtbare Wahrheit anzuvertrauen. Aber ich berichtete stolz von der Bedeutung der zweiunddreißig Rosen, die auf die Kompassrose hinweisen, und der Windrose, die mich zu dem Zephyr-Pferd geführt hatte.
Als ich geendet hatte, schlug er sich ein paarmal gegen die Stirn, rief: »Natürlich!« und nickte mir zu. »Alles Fingerzeige auf die Stadt Venedig. Ich bin im Gefängnis und auch im Herbarium dem falschen Kurs gefolgt; ich habe mich nur auf die für Venedig stehende Figur konzentriert, auf Chloris, deine... Mutter. Ich habe da noch nicht erkannt, dass uns alle Figuren Hinweise auf die nächsten Städte geben - denn alle Neapel-Hinweise haben wir Fiammetta entnommen und alle auf Rom der Semiramide-Venus. Es ist mir nicht in den Sinn gekommen,
dass uns Flora Anhaltspunkte liefert, die auf Venedig hindeuten.«
»Je näher wir der Lösung kommen, desto raffinierter wird Botticelli.« Meine Bemerkung ergab keinen Sinn, aber er verstand, was ich sagen wollte.
»Ja. Bruder Nikodemus und ich versuchten uns an die Blumen zu erinnern, die aus Chloris’ Mund strömen, aber ohne den cartone war das nahezu unmöglich.«
»Die habe ich mir auch angesehen.« Ich zog den cartone hervor, entrollte ihn und beschwerte die Ecken. Tiefe Freude durchströmte mich, als wir uns so wie früher darüberbeugten, womit ich nie wieder gerechnet hätte. Unsere Köpfe berührten sich fast. Ich deutete auf die aus Chloris’ Mund quellenden Blumen, während ich ihre Namen nannte. »Fiordaliso, Anemone, Occhiocento und Rose, aber ich kenne die lateinischen Bezeichnungen nicht, nur die gebräuchlichen toskanischen, daher konnte ich keine Worte aus den Anfangsbuchstaben bilden oder ihnen irgendeine Bedeutung entnehmen.«
»Dann waren Bruder Nikodemus und ich doch auf dem richtigen Weg. Wir tippten auf die Rose - rosa centifolia, die Kornblume oder Fiordaliso, auf Lateinisch centaureus cyanus , die Anemone - anemone nemerosa - und Occhiocento, auch als Hundertauge bekannt. Vinca oder vinca minor. «
» Madonna . Das ist ja ein noch viel schlimmerer Buchstabensalat. R-C-C-C-A-N-V. Oder V M«, buchstabierte ich voller Stolz.
»Vielleicht ist alles viel einfacher - vier Blumensorten, vier Winde. Vielleicht ein anderer Wink, der dich zu der Windrose und den vier Windrössern auf der Basilika in Venedig führen sollte.«
Ich war mir da nicht so sicher; für Botticelli, der sich bislang so gerissen wie der Teufel gezeigt hatte, erschien mir diese Schlussfolgerung zu simpel.
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