Das Geheimnis Des Frühlings
Karte.
»Aber was zeigt sie?«, murmelte ich erstaunt.
»Ich weiß es nicht. Aber die Schlange hat uns alles gesagt, was sie kann. Lass uns verschwinden, ehe wir entdeckt werden.«
Er griff nach der letzten Kerze. Wir trugen sie zur Tür und bliesen sie aus, ehe wir die Kirche verließen. Dann rannten wir zu Santa Maria Grazia zurück. Mein Herz blieb einen Moment lang stehen, als ich mir vorstellte, die Türen verschlossen vorzufinden. Aber nein - der nächste Gebetszyklus war bereits im Gange, und wir konnten ungehindert durch den Innenraum zur Treppe huschen, die zu dem Fußweg führte. Während wir den Graben entlangliefen, flüsterte Bruder Guido mir Anweisungen zu.
»Ich komme morgen Nacht wieder, dann reden wir weiter«, sagte er. »Wir sind ein gutes Stück weitergekommen.«
»Wie willst du das anstellen? Du hast deine Schicht getauscht«, erinnerte ich ihn.
»Ich tausche sie zurück. Lucca hat bestimmt nichts dagegen. Ich sage ihm, mein Mädchen hätte mich versetzt, und ich wäre lieber auf meinem Posten als vor Kummer sturzbetrunken. Zwischen der Vesper und der Non klopfe ich an deine Tür.«
Wir eilten die Treppen zum Turm mit solcher Hast hinauf, dass ich meinte, meine Lunge müsste bersten. Die Fackel des Wärters, der Bruder Guido ablösen sollte, tanzte schon die Brustwehr entlang. Ich stürmte in meine Zelle, schloss die Tür geräuschlos hinter mir und hörte, wie Bruder Guido seine lange erloschene Fackel aus dem Wandhalter riss. Sein Kamerad kam um die Ecke, und ich presste ein Ohr gegen die Tür.
»Kein Licht, privato Guido?«
»Ich mache Doppelschicht. Für Lucca. Die Fackel ist vor ungefähr einer Stunde ausgegangen.«
»Warum hast du dir denn im Wachhaus keine neue geholt?« Der Mann war eindeutig sein Vorgesetzter.
»Dazu hätte ich um den Torre Serpiolle herumgehen müssen. Ich wollte meinen Posten nicht so lange verlassen.«
»Ach so.« Die Stimme klang überzeugt, sogar von so viel Pflichteifer ein wenig beeindruckt. »Du kannst jetzt gehen.«
Ich hörte, wie Bruder Guidos Schritte sich entfernten, und bekam wieder Luft.
»Ach, privato?«
Mir stockte erneut der Atem.
»Ja?«
»Hol dir beim Quartiermeister deine Grapparation ab. Du hast eine lange Nacht hinter dir.«
»Mache ich. Notte.«
»Notte.«
Einen Moment später sackte ich, vor Anstrengung und Angst ausgepumpt, auf meiner Pritsche zusammen. Aber ehe ich die Augen schloss, sah ich mir die Karte noch einmal an. Der Abdruck war schwer zu erkennen; er überdeckte die Worte auf der Bibelseite, die in engen schwarzen Buchstabenen geschriebenen Zeilen aus dem vierten Buch Mose. Ich kniff die Augen zusammen, um im Dämmerlicht besser sehen zu können. Es gab keine Ortsangaben, nichts, was darauf hinwies, um welche Ecke der Welt es sich handelte. Ich entdeckte nur einen kleinen Stern an der Nordwestküste des unbekannten Landes.
Endlich gab ich auf und schob das Pergament zusammen mit dem cartone in mein Mieder zurück, dann versuchte ich vergeblich mich daran zu erinnern, ob ich diese Umrisse während meines Unterrichts bei Signore Cristoforo in Venedig schon einmal gesehen hatte.
Meine Lider wurden schwer, und das nicht benannte Land verschwamm vor meinen Augen. Und da ihr nicht sehen könnt, was mein geistiges Auge mir vorspiegelte, werde ich es euch zeigen.
Ich finde, am ehesten lässt es sich mit, nun, mit einem Stiefel vergleichen.
5
Bei Tagesanbruch wachte ich in meiner Zelle auf, noch immer vollständig angekleidet und starr vor Kälte - Zephyr hatte sich gerächt, indem er seinen kalten Frühlingsatem in meine Orgelpfeife von Turm geblasen und mich in aller Herrgottsfrühe geweckt hatte.
Ich sah zu, wie die Sonne über der Stadt aufging. Von hier aus konnte ich die Zwillingstürme von Sant’Ambrogio sehen, und nur diese erinnerten mich daran, dass die letzte Nacht kein Traum gewesen war. Ich zog die Karte aus meinem Mieder, um sie noch einmal anzusehen, musste sie aber sofort wieder zurückschieben, weil sich der Schlüssel im Schloss drehte und die Tür geöffnet wurde. Ein Offizier trat ein. Im Arm hielt er ein Bündel flammend roter Seide.
»Eure Frau Mutter möchte Euch gern in ihrer Kammer sehen«, verkündete er.
Das war keine Bitte, sondern ein Befehl.
Mein Herz fing augenblicklich an zu hämmern und meine Wangen begannen trotz der Kälte zu brennen. Hatte sie mittels
derselben Magie, mit deren Hilfe sie erraten hatte, dass ich in Bozen meine Kammer verlassen hatte, herausgefunden, wie und wo
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