Das Geheimnis Des Frühlings
mich auch nicht an. Ich seufzte. Das war das Schlimmste an diesen frommen Typen, und ich hätte es kommen sehen müssen, ich kannte ihn ja inzwischen gut genug.
Er wurde von Schuldgefühlen geplagt.
Wir glitten in die Bucht, und ich sah, dass Neapel aus der Nähe betrachtet ziemlich schäbig wirkte. Ein Zwerg trottete herbei, vertäute unser Boot und fing die Münze auf, die der Kapitän ihm zuwarf. Dann half er uns beim Aussteigen. Ich war so froh, nach Tagen auf See endlich wieder den Fuß auf festen Boden zu setzen, dass ich den schmutzigen Sand hätte küssen können. Tatsächlich wäre ich beinahe gestolpert, denn meine Knie wurden weich, der Untergrund fühlte sich schwammig und uneben an, und ich schwankte, als befände ich mich noch auf dem Wasser. Die Fessel an meinem linken Fuß machte alles nur noch schlimmer, denn Bruder Guido und ich waren gezwungen, im Gleichschritt zu gehen. Trotzdem machte mein »Freund« keine Anstalten, mich zu stützen, es war der Kapitän, der nach meinem Ellbogen griff. »Landkrankheit«, erklärte er. »Das vergeht bald.« Zusammen verließen wir den Kai und folgten dem Zwerg in die Stadt. Die Straßen schlossen sich um uns.
Ein Lärmschwall schlug mir entgegen, ein Farbenmeer brandete vor meinen Augen auf, und hundert verschiedene Gerüche stiegen mir in die Nase. Neapel glich keinem anderen Ort, an dem ich je gewesen war. Ich war in einen arabischen Basar geraten.
Vom ersten Schritt an wurden wir ständig sowohl von Zigeunern als auch von Einheimischen belästigt. Händler priesen lautstark ihre Waren an - Gewürze, Perlen, Fische, exotische Speisen - und ich sah sogar ein paar menschliche Schädel, die mich von einer Bretterbude aus mit leeren Augenhöhlen anstarrten. Ich bemerkte allerdings auch eine Reihe aneinandergeketteter Sklaven: hübsche, spärlich bekleidete Mädchen, kräftig gebaute Männer und auch einige Kinder. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Bruder Guido und ich würden dasselbe
Schicksal erleiden, wenn wir Don Ferrante nicht gefielen. Dieser Ort war gesetzlos, lärmerfüllt, verwirrend und bedrohlich; eine Stadt von Dieben und Halsabschneidern. Dennoch winkten uns viele Bewohner in ihre Läden oder sogar in ihre Häuser. Einmal führte uns der Kapitän in eine dämmrige Stube und erstand für eine Münze einen Weinschlauch. Während wir abwechselnd daraus tranken (Bruder Guido lehnte erwartungsgemäß ab), blickte ich mich neugierig um. Die ganze Familie, sechs Erwachsene und ein Säugling, schienen in dem einen Raum zu hausen, in dem es ein Bett, eine Feuerstelle, ein paar Kochutensilien und sonst nicht viel mehr gab. Alles war so schmutzig, dass ich einen erleichterten Seufzer unterdrückte, als wir wieder ins Freie traten. »Leben sie etwa alle zusammen in diesem dunklen Loch?«, wandte ich mich an den Kapitän, dabei musste ich die Stimme heben, um den Lärm zu übertönen.
»Ja«, bellte er zurück. »Das ist ein so genanntes basso, ein Haus mit nur einem Raum.«
Madonna. In einem einzigen Raum kochen, vögeln und schlafen, während die Kinder zusahen? Da hatten ja sogar Enna und ich besser gewohnt. Ich bemühte mich rasch, das Thema zu wechseln, weil ich mich erinnerte, dass der Kapitän Neapolitaner und es daher nicht ratsam war, Nachteiliges über seine Heimat zu sagen. »Der Wein war köstlich.«
Der Kapitän nickte. »Weißwein. Wir nennen ihn Lacrimae Christi, die Tränen Christi. Die Trauben wachsen im Schatten des Vulkans.« Er deutete auf den über uns aufragenden blauen Berg. »Das Salz aus seinem Bauch verleiht ihnen ihren besonderen Geschmack.« Ich hatte natürlich schon von solchen Bergen gehört, die Feuer und geschmolzenes Gestein ausspeien, und warf ihm einen beunruhigten Blick zu, doch der Vulkan glich heute einem schlafenden Drachen, er rauchte unter dem blauen Himmel friedlich vor sich hin.
An seinem Fuß herrschte allerdings weniger Frieden. Überall ertönte Lärm, ständig erklang misstönende Musik, und bei
jedem Schritt hörten wir in näselnden Tönen zum Besten gegebene beliebte Gassenhauer. Besonders ein Lied wurde praktisch an jeder Ecke gesungen.
Jesce, jesce corna ;
La mammata de scorna ,
Te scorna ’ncoppa lastrico ,
Che fa figlio mascolo .
Späh heraus, späh heraus!
Streck deine Fühler aus.
Deine Mutter macht sich über dich lustig.
Ein weiterer Sohn ist unterwegs,
Aber du bist es, über den sich ihr Spott ergießt.
Der neapolitanische Dialekt war nahezu unverständlich, dazu kam das Kreischen der
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