Das Geheimnis Des Frühlings
Grund zu laufen. Bruder Guido und ich kletterten hastig zum Strand hinunter, der jetzt trocken und golden in der Mittagssonne schimmerte.
Als wir uns umblickten, trauten wir unseren Augen kaum; hier hatte keine einfache Ebbe eingesetzt, sondern der Sand sah aus, als wäre nie eine Welle darüber hinweggerollt. »Was ist nur passiert? Wo ist das Meer abgeblieben?«, flüsterte ich.
Bruder Guido schüttelte voller Staunen den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht kommt so etwas hier häufiger vor - eine plötzlich einsetzende Ripptide, die das Wasser zurückweichen lässt. In den Marschen von Pisa kann man so etwas manchmal bei Vollmond beobachten. Aber ich habe noch nie erlebt, dass das Meer so schnell und vollständig verschwindet.«
Der Sand war glatt und golden wie ein Weizenfeld, der Himmel so blau wie der Umhang der Jungfrau Maria. Es war ein herrlicher Tag, und unter anderen Umständen wäre es mein schönster Traum gewesen, mit dem Mann, den ich liebte, am Strand entlangzuspazieren. Aber irgendetwas stimmte
hier nicht. Die Sonne war zu hell, der Himmel zu blau. Alles erschien mir, nun ja, zu real. Außerdem hörte ich keinen einzigen Vogel, sogar die Möwen, deren permanentes Geschrei ich seit drei Tagen ertragen musste, schwiegen. Und ich entdeckte kein einziges Tier auf dem Sand, keinen Wurm, keinen einzigen gestrandeten Hering. Auch die Luft kam mir anders vor als sonst; so als würde es mich anstrengen, sie zu durchschreiten. Ich versuchte, Bruder Guido meine Eindrücke zu vermitteln. »Ist Euch auch aufgefallen, dass sich die Luft verändert hat? Sie erscheint mir irgendwie - wie soll ich es beschreiben? -, irgendwie fest, nicht so durchlässig wie sonst. Und das Atmen fällt mir schwer.«
Ich rechnete mit einer spöttischen Antwort, wie ich sie so oft auf meine Fragen erhielt, aber zu meiner Überraschung nickte er nur.
»Ich weiß, was Ihr meint. Wie das Blut des Heiligen.«
Ich erinnerte mich an die Legende von San Gennaro und an den unnatürlich hellen Mond gestern Abend. Und nun war das Meer verschwunden, als habe jemand den Stopfen aus einer Wanne gezogen. Vorzeichen drohenden Unheils. Böse Omen. Trotz der Hitze des Tages begann ich zu frösteln und beschleunigte meine Schritte. Wir legten das kurze Stück Weg zum Hafen rasch zurück und kletterten durch Zufall genau auf den Pier, an dem wir einen Tag zuvor angelegt hatten. Doch diesmal schwappten keine Wellen gegen das Holz, und es war kaum eine Menschenseele zu sehen. Wir wählten wieder den Weg über den Marktplatz. Ich stellte fest, dass die Türen heute hastig geschlossen wurden, wenn wir vorbeikamen, und dass die schwarz gekleideten Witwen sich ihre Schleier vor das Gesicht zogen. Ausgelassenheit war in Lethargie umgeschlagen, Chaos in gespenstische Stille. Sogar die Straßenhunde lagen mit auf die Pfoten gebetteten Köpfen still im Schatten und gaben keinen Laut von sich. Und wir sahen praktisch überall das Teufelshörnerzeichen: Vom ältesten Graubart bis hin zu Kindern, die kaum laufen konnten, streckte jedermann den
Zeige- und den kleinen Finger vor und presste die mittleren gegen den Daumen.
Wir stiegen hügelaufwärts zum Castel Nuovo und passierten das Tor. Ich hoffte, dass zumindest innerhalb der Burgmauern alles seinen gewohnten Gang ging, aber auch hier schien sich eine seltsame Wandlung vollzogen zu haben. Vor dem Bergfried wartete ein Dutzend schwarz-goldener Kutschen. Die schwarzen Zugpferde standen regungslos wie Statuen da, rollten aber die Augen, dass das Weiße zu sehen war, und ihre Flanken glänzten vor Schweiß. Sie schüttelten weder die Mähnen, noch schlugen sie mit den Schweifen, um lästige Fliegen zu vertreiben, weil sie unglaublicherweise von keiner einzigen Fliege umschwirrt wurden. Bruder Guido und ich gesellten uns zu Santiago, der ganz offensichtlich auf uns gewartet hatte. Die Frage, ob wir nach Florenz zurückkehren sollten oder nicht, stellte sich nicht mehr, jetzt stand nur eines fest: Wir mussten diesen unheimlichen Ort so schnell wie möglich verlassen, sonst würde uns irgendein fürchterliches Unheil ereilen. Auf Santiagos Wink hin folgten wir ihm zu den königlichen Kutschen. Wir bedurften keiner zweiten Aufforderung, denn unser Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde. Bruder Guido riss die Tür des dritten Gefährts auf, auf dessen Schlag das kunstvolle Wappen des Hauses Aragón prangte. Wir kletterten so eilig hinein, dass wir fast auf dem Schoß des Königs und der Königin gelandet wären. Beide
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