Das Geheimnis des goldenen Salamanders (German Edition)
wieder unter den Dielenbrettern versteckt, doch sie erinnerte sich an jedes Wort. Sie musste gleich nach der Brücke links abbiegenund eine breite Straße entlanggehen, an einer Werft vorbei, bis zum Laden eines Zuckerbäckers. Ein großes Steinhaus mit Türmchen auf der anderen Straßenseite, neben dem Flussufer, war sicher nicht zu verfehlen. Wenn sie erst einmal die Brücke überquert hatte, konnte es nicht mehr weit sein.
Alyss ließ sich vom Strom der Menschen in Richtung Stadt treiben. Heute herrschte besonders reger Betrieb. Zwar wusste sie, dass in London immer mehr los war als auf dem Land, wo die Stille um Hatton Hall nur zur Erntezeit unterbrochen wurde, doch so viele Menschen auf einmal hatte sie selbst in der Stadt noch nie gesehen. Gut gelaunt schienen sie alle dasselbe Ziel zu haben. Man konnte fröhliches Kinderlachen hören, Männer und Frauen, die sich angeregt unterhielten. Aus der Ferne wehten das beschwingte Trillern einer Fidel, Gesang und Trommelschläge herüber. Die Musik wurde immer lauter, das Gedränge immer dichter.
»Hallo Junge!«, lallte ein junger Mann, der schwankend aus der anderen Richtung kam. Er roch nach Bier. »Warum so ernst? Heute sollte jedermann guter Dinge sein.« Dann zog er singend weiter.
Was ging hier vor? Auf der breiten Straße, auf der gewöhnlich Reiter, Kutschen und Karren in die Stadt reisten, hatte man ein ganzes Dorf aus Buden und Zelten aufgebaut. Ein Stück weiter versperrte eine Gruppe von Leuten fast den ganzen Weg. Sie schauten gebannt nach oben. Alyss folgte ihren Blicken. Da hatte doch glatt jemand ein Seil über die Straße, zwischen zwei gegenüberliegenden Häusern gespannt. Ein Gaukler, der einen bunten Harlekinanzug trug, setzte einen Fuß nach dem anderen auf das Seil und tanzte mit zierlichen Schritten quer über die Straße, als sei nichts einfacher, als aufeinem Seil durch die Luft zu spazieren. Auf seinem Kopf balancierte er zusätzlich einen silbernen Leuchter, in dem mehrere Kerzen flackerten. Plötzlich sprang er hoch und machte einen Salto in der Luft. Dann landete er wieder auf dem Seil, das nun leicht bebte. Den Leuchter hatte er mit der Hand aufgefangen. Trotz der Musik, die dicht daneben ertönte, meinte Alyss das erleichterte Aufatmen der Zuschauer zu hören.
»Wisst Ihr, was hier los ist?«, fragte sie eine Frau, die ebenfalls den Seiltänzer bestaunte. Auf dem Arm trug sie ein kleines Mädchen, das zufrieden an einem Pfefferkuchen knabberte. Verwundert blickte die Frau Alyss an.
»Du bist wohl nicht von hier«, stellte sie fest.
Alyss schüttelte den Kopf. »Nein, Madam.«
»Na, der Jahrmarkt hat heute angefangen«, erklärte die Frau freundlich, »das will keiner versäumen.« Sie nickte Alyss lächelnd zu und blickte wieder zum Akrobaten hoch, der seinen Leuchter einem Gehilfen überreicht hatte und jetzt einen Schubkarren über das Seil schob.
Alyss drängte sich weiter durchs Getümmel. Für eine Weile vergaß sie, wie erschöpft sie war und dass sie eigentlich auf die andere Seite des Flusses wollte. Es gab so viel zu sehen.
»Hereinspaziert!«, rief eine Frau dicht neben ihr. Sie stand auf einer hölzernen Plattform, die neben einer Bude errichtet worden war. »Besichtigen Sie Leonora, das Affenweib! Sie ist am ganzen Körper behaart!«
»Treten Sie ein, meine Herrschaften!«, versuchte ein Mann in der Nachbarbude die Frau zu übertönen. »Versäumen Sie nicht die Sensation des Jahrhunderts. Kleopatra, das Krokodilmädchen aus dem Land der Pharaonen. Halb Weib, halb Krokodil!«
Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Stand aufgebaut,auf dessen Rückwand ein Löwe aufgemalt war. Sein Maul war weit aufgerissen, und die Kunden mussten versuchen, Bälle in das dunkle Loch zu zielen.
»Drei Würfe nur einen Penny«, warb eine dicke Frau hinter der Theke um Kundschaft.
»Wetten, dass ich das mühelos schaffe«, hörte Alyss einen Mann prahlen. Er trug Perlenohrringe, feine Seidenhosen und ein Wams aus besticktem Brokat. Er legte seinen Arm um die Hüften einer jungen Frau, die verlegen kicherte, und schob sie zur Wurfbude.
Alyss wusste nicht, wohin sie zuerst blicken sollte. Staunend ging sie weiter, als ihr der Geruch von gebratenem Fleisch in die Nase stieg. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie seit dem Vorabend nichts mehr gegessen hatte. Eigentlich sprach nichts dagegen, sich zuerst hier zu stärken, bevor sie Sir Christopher auf der anderen Flussseite aufsuchte.
»Gott grüße dich, junger Herr!«
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