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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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weiß wie Schnee, so entfaltet sich das Schwarz der Schrift königlich darauf, und gerade habe ich die Idee, das Wort ›Gold‹ mit Blattgold zu schreiben. In zwei Tagen können Sie den Brief abholen. – Hat Ihnen übrigens Ihr freundlicher Mitarbeiter gesagt, dass wir den Vertrag bereits unterschrieben haben? Ich habe auch schon die Schlüssel bekommen. Gestern Nacht war ich so neugierig, dass ich in die Bagdader Straße ging, um das Haus zu betrachten. Wirklich eine Perle. Sie haben nicht übertrieben. Anfang Januar werden die Marmorplatten fertig sein ... «
    »Mehrere Platten? Sind es inzwischen so viele Spender?«
    »Ja, auf der einen Platte will ich nur die edelsten Spender und Freunde der Schule nennen. Sie stehen hier natürlich an erster Stelle. Auf die zweite setzen wir den Rest.«
     
    Nassri hatte beschlossen, seine Briefe zu der schönen Frau segeln zu lassen. Er hatte Tage zuvor die Idee aufgegeben, ihr Haus aufzusuchen und ihr den Brief direkt oder durch einen Boten zukommen zu lassen, nachdem er die Gasse gefunden hatte.
    Er versuchte das Haus der Frau genau zu orten. Es fiel ihm sehr schwer, von seinem Mansardenfenster aus ihre Haustür zu erkennen.Er hatte sich jedoch die ungewöhnliche braune Farbe der Dachrinne gemerkt und hoffte, von ihrer Gasse aus das richtige Haus auszumachen.
    Er hatte aber noch nicht einmal die Gerade Straße verlassen, um in die Gasse der geheimnisvollen Nachbarin zu gelangen, als er die Stimme von Balal Abbani hörte, einem fernen Cousin. Balal war ein Mann von geringem Verstand, aber einer langen Zunge. Nach einem Unfall war er gelähmt und saß vierundzwanzig Stunden am Fenster. »Ja, wen sehe ich denn da?«, krächzte die grässliche Stimme. »Meinen Cousin Nassri Abbani! Was suchst du denn hier in unserer Gasse? Hast du schon wieder jemanden flachgelegt und bringst die Alimente?« Und er lachte so dreckig, dass Nassri ihm den Tod wünschte. »Guten Tag«, rief er nur und eilte unter dem Fenster vorbei. Zehn Schritte weiter lauerte die zweite Überraschung. Die Schwester eines seiner Pächter erkannte ihn und stürzte sich auf seine Hand. Sie wollte sie aus Dankbarkeit küssen und rief laut ins Hausinnere, wo sie zur Miete wohnte: »Hier ist der großzügige Abbani, kommt her und schaut euch dieses Bild von einem Mann an!« Er machte seine Hand los und ging eiligen Schrittes, sein Pech verfluchend, davon, da rief die Frau ihren herbeigeeilten Nachbarinnen zu: »Er ist schüchtern, ein echter Abbani. «
    Keine fünf Meter weiter grüßte ihn ein Bettler: »Sie, Herr Abbani? Das ist ja eine Überraschung«, rief er heiser.
    Nassri wusste nicht, woher der Bettler, der ihn nun am Ärmel festhielt, seinen Namen kannte. Er befreite sich wütend und war so durcheinander, dass er nicht nur das Haus der schönen Frau nicht mehr fand, sondern auch nicht mehr wusste, wie er aus der Gasse wieder hinauskommen konnte.
    Nein, dachte er, diese Gasse ist ein Feld voller Minen. Sein Cousin war eine, die Schwester seines Pächters eine andere, der Bettler und all die vielen, die hinter Fenstern und Türspalten lauerten, um seinen Ruf in Fetzen zu reißen, waren eine ganze Batterie. Nassri erinnerte sich an die Geschichte von einem Liebhaber, der vierzig Jahre brauchte, um seiner Angebeteten unbeobachtet einen Liebesbrief auszuhändigen. Da hatte die Frau bereits vier Söhne und zwanzig Enkelkinder.
    Er musste einen anderen Weg finden. »Warum nicht den Brief zu einer Papierschwalbe falten und ihn der Frau von der Mansarde aus ins Zimmer oder in den Innenhof segeln lassen?«, fragte er sich, als er zwei Jungen neben der Omaijaden-Moschee sah, die einander raffiniert gefaltete Schwalben zusegeln ließen.
     
    Der Besuch beim Augenarzt dauerte nicht lange. Dr. Farah untersuchte das leidende Auge genau fünf Minuten, beruhigte Abbani und seine Frau, verschrieb ihr ein Heparinderivat und kassierte dreißig Lira. »Der ist aber teuer«, wunderte sich seine Frau Lamia beim Hinausgehen. Nassri zeigte auf das Arztschild: »Irgendjemand muss die Reisen in diese herrlichen Länder bezahlen.« Lamia hatte gerade die letzte Zeile unter dem Arztnamen zu Ende gelesen. Die Krankenhäuser von New York, London, Lyon, Madrid und Frankfurt waren als Zeugnis seiner Spezialisierung genannt.
    Zu Hause, bei seiner Frau Lamia, begann er Papierschwalben zu falten und sie vom Balkon im ersten Stock aus segeln zu lassen. Die vier älteren Mädchen hüpften aufgeregt um ihn herum, die zwei jüngsten Mädchen

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