Das Geheimnis Des Kalligraphen
zeigten verwundert lachend auf die Papiervögel, die mal im Sturzflug unter dem Balkon landeten, mal elegante weite Schleifen zogen, um irgendwann in den Bäumen des großen Gartens hängen zu bleiben oder auch einfach bäuchlings zu landen.
Die Papierschwalben waren, befand Nassri, unzuverlässig, eine von ihnen wurde sogar von einer Windböe erfasst und in den Nachbargarten getragen. Er stellte sich die Nachbarin vor, die unerwartet den Brief erhielt und sich ihn von seinem Cousin vorlesen ließ. Er spürte seine Wut wie einen Stein in seinem Hals.
»Was ist nur in diesen Mann gefahren?«, fragte sich Lamia. Nie zuvor sah sie ihn mit ihren Töchtern spielen. Und nun plötzlich an einem zwar sonnigen, aber eiskalten Dezembertag.
Es war sein drittes Mädchen, Samira, die sich statt der komplizierten Schwalbe für einen viel einfacheren Trick entschied. Sie faltete das Blatt dreimal der Länge nach. Der gefaltete Papierstreifen hatte das Aussehen eines Lineals. Nun knickte sie den Streifen in der Mitte zu einem V und ließ ihn vom Balkon fallen. Und siehe da, das Papier drehtesich sanft wie der Rotor eines Hubschraubers und sank langsam zu Boden, nicht weit vom Balkon. Nassri war begeistert. »Das ist es!«, rief er. Und auch er faltete das Papier der Länge nach, beschwerte es mit einer Münze, die er mit etwas Kleber in der Mitte der V-Form befestigte, und nun segelte das Papier senkrecht nach unten und kam zuverlässig genau unter dem Balkon an.
24.
E ine Woche nach der Unterzeichnung des Vertrags saßen etwa vierzig Männer im größten Raum der neuen Schule. Da es noch keine Stühle und Tische gab, saßen sie alle auf Teppichen, die Hamid besorgt hatte. Sie tranken Tee und lauschten ihrem Vorsitzenden Hamid Farsi, den sie Großmeister nannten. Er erklärte ihnen die wichtigsten Punkte für die Planung der neuen Schule. Seine Worte klangen siegesgewiss und seine Haltung war die eines stolzen Generals vor einer gut geplanten Schlacht. An der Wand hinter ihm hing der Entwurf eines großen Schildes, vorläufig noch auf Papier: Ibn-Muqlas-Schule für Kalligraphie.
»Damit werden wir einen gewaltigen Fortschritt für unseren Bund erzielen, die erste Schule in Syrien für die Kunst, die unser verehrter Meister Ibn Muqla im Jahre 937, drei Jahre vor seinem Tod, entwickelt hat. Unsere Feinde werden nicht ruhen, deshalb sollen die Eröffnungsfeier und die Namen der Förderer sie einschüchtern und kleinlaut werden lassen. Und bevor sie sich vom ersten Schock erholt haben, ist die zweite Schule in Aleppo bereits gegründet. Der Vorsprung ist das Geheimnis des Siegers. Und während sie über die Schulen in Damaskus und Aleppo debattieren, haben wir die dritte in Homs und die vierte in Latakia eröffnet.
Diese Schulen werden der Keim für eine neue Zukunft der Kalligraphie sein. Wir werden hier die Tradition bewahren und auf der Suche nach Neuem experimentieren und weiterentwickeln, bis wir ein dynamischesAlphabet entwickelt haben, und nebenbei werden wir – ich schätze in vierjährigem Rhythmus – eine Gruppe nach der anderen von jungen, bestens ausgebildeten Kalligraphen ins Land schicken. Sie werden überall die Buchstaben aus dem Morast der Rückständigkeit herausholen, sie bereichern und wieder ins Leben entlassen. Ich schätze, in zwanzig Jahren haben wir die Kalligraphie zu dem erhoben, was sie ist, eine göttliche, reine Kunst.
Der Angriff der bärtigen Dummköpfe, die sich ›die Reinen‹ nennen, besteht darin, uns vorzuwerfen, die Religion zu missachten, weil wir Schrift und Sprache reformieren wollen. Lasst euch nicht einschüchtern, liebe Brüder, gerade weil wir den Islam lieben und den Koran heiligen, wollen wir diese schönste aller Sprachen nicht vermodern lassen. Wer Sprache pflegt, pflegt auch die Vernunft, und Gott ist die größte und reinste Vernunft. Von den Dummen wird Gott gefürchtet, von uns werden er und sein Prophet bis zum Ende aller Zeiten selbstbewusst geliebt und verehrt werden.
Mein Traum wäre eine arabische Sprache, die alle Töne und Laute der Erde vom Nord- bis zum Südpol ausdrücken kann. Aber bis dahin ist ein weiter Weg. Also macht euch auf, Soldaten der Zivilisation, und spitzt eure Federn. Wir gehen zum Angriff über.«
Beifall hallte durch das ganze Haus. Hamid hatte sich erhoben und nahm bewegt das Lob seiner Vertrauten entgegen. Auch seine härtesten Gegner mussten zugeben, dass es Hamid Farsi als erstem gelungen war, dem Bund eine offizielle Schule zu
Weitere Kostenlose Bücher