Das Geheimnis Des Kalligraphen
den Mund. Der Propeller landete zwei Meter neben der Mauer nicht weit vom Brunnen entfernt.
Die Frau richtete sich auf, lächelte ihn noch einmal an und standauf, um den Papierstreifen zu holen. Da hörte Nassri Schritte und einen Schlag. Es hörte sich an, als hätte jemand mit einem Hammer gegen eine Tür geschlagen. Er schloss schnell das Fenster, hielt kurz inne und trat auf die kleine Terrasse vor der Mansarde. In diesem Augenblick sah er seine Frau das Treppenhaus betreten, das vom ersten Stock zum Erdgeschoss führte. Er wartete vor der Leiter, um zu sehen, ob er sich nicht geirrt hatte. Aber niemand trat aus dem Treppenhaus heraus.
Eine Halluzination wegen meiner Gewissenbisse, dachte er und lächelte, da er eigentlich seit seiner Kindheit keine Gewissenbisse mehr kannte. Er trat auf die erste Sprosse der Leiter, und als er mit dem anderen Fuß die nächste suchte, krachte das Holz unter ihm zusammen und er fiel in die Tiefe, fuchtelte Halt suchend in der Luft herum und schlug mit seinem linken Bein hart auf dem Boden auf.
Eine von Schmerz erfüllte Dunkelheit fiel wie ein Brett über ihn. Als er zu sich kam, lag er im Krankenhaus. Sein linkes Bein war eingegipst und ließ sich nicht mehr bewegen.
30.
H amid Farsi tobte vor seinen versammelten Mitarbeitern, denn nur sie wussten von Nassri Abbanis großem Geschenk und von den beiden Marmortafeln, die der Geselle Samad nach Entwürfen seines Chefs in der Werkstatt gemeißelt hatte. Und er war es auch, der Hamid auf den Laufburschen Salman als möglichen Verräter aufmerksam gemacht hatte, denn der Laufbursche war derjenige unter den Mitarbeitern, der die meisten Gespräche mit der Kundschaft belauschen konnte.
»Aber der ist doch Christ«, winkte Meister Hamid ab. Samad kümmerte das wenig: »Ob Christ oder Jude, die sind doch alle Verräter. Sie haben ihren Jesus für dreißig Silberlinge verkauft. Mahmud soll alles aus ihm herausquetschen, bis er trillert wie ein Kanarienvogel.«
Der Meister schwieg, stimmte schließlich zu.
Der arme Laufbursche kam am nächsten Tag voller blauer Flecken, seine Hände und ein Auge waren geschwollen, eine Wunde an der linken Ohrwurzel war eklig dick und braun verkrustet. Aber Mahmud hatte nichts aus ihm herausgeholt, nichts. Samad stand mit gesenktem Kopf vor seinem Meister.
Hamid fragte Salman scheinheilig, was ihm passiert sei, und dieser sagte aus Angst vor Mahmud, er sei vom Fahrrad gefallen und in eine tiefe Böschung gestürzt.
Es war ein Tag vor Weihnachten. Hamid schaute den dürren Jungen mitleidig an: »Ihr feiert morgen die Geburt eures Propheten, nicht wahr?«, fragte er. Salman nickte. »Danach feiert die Welt Silvester. Bleib also bis zum zweiten Januar zu Hause und erhole dich gut«, sagte er, zog sein Portemonnaie aus der Tasche, händigte Salman seinen vollen Monatslohn aus und verabschiedete sich von ihm. In diesem Augenblick erschien seine Schwester Siham in der Ateliertür. »Du verschwindest hier«, rief Hamid aufgebracht. »Heute habe ich keine Zeit für dich und auch kein Geld«, sagte er und schob sie hinaus. Die Schwester murmelte irgendetwas, schlug mit der Faust gegen die Glastür und ging.
»Und zur Strafe wird Mahmud den Laufburschen spielen«, schrie Hamid, damit auch alle in der Werkstatt es hören konnten.
Das war für den erwachsenen Gesellen Mahmud tatsächlich eine schlimme Strafe. Aber die schlimmere sollte im Januar noch folgen.
Als Salman Nura von einer Telefonzelle aus von dem Vorfall berichtete, wollte sie ihn unbedingt sehen. Salman schämte sich ihrer Blicke, aber sie bestand auf einem Treffen.
Sie saßen in einem Café im neuen Stadtteil in der Nähe des Fardus-Kinos. Salman schwieg. Nura war entsetzt. Wie sie Salman zugerichtet hatten! Wie konnte ihr Mann nur so grausam sein? Sie weinte bei seinem Anblick, küsste ihn auf die Augen und fühlte dennoch keine Angst. Der Wirt schaute das Paar mitleidig an. Nura fühlte einen bitteren Hass gegen ihren Mann. Sie ging nach dem Treffen zu Dalia, erzählte ihr nichts, trank aber zum ersten Mal in ihrem Leben Arrak. Danachfühlte sie sich leichter. Als sie sich verabschiedete, drückte die Schneiderin sie fest: »Pass auf dich auf, mein Kind«, sagte sie leise. Nura nickte und ging langsam nach Hause.
Am 3. Januar, wieder zurück in der Werkstatt, fragte Karam Salman beim Mittagessen, ob er von Mahmuds Erkrankung gehört hätte. Salman schüttelte den Kopf.
»Er ist – wie ich hörte – schwer krank und wird
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