Das Geheimnis Des Kalligraphen
Virusinfektion? Und dann nahm er Salman beiseite und teilte ihm mit, die Mutter werde nicht mehr lange leben. Sie war nicht einmal vierzig Jahre alt.
Salman und sein plötzlich zur Besinnung gekommener Vater pflegten sie, und auch die Nachbarn halfen mit. Doch die Mutter kam nicht zu Kräften.
Was für ein Elend, dachte er auf dem Weg zur Arbeit. Ein Mensch wie seine Mutter wurde in Armut geboren, an einen fremden Mann verscherbelt, den sie weder liebte noch achtete und von dem sie nicht geliebt und geachtet wurde, sie verbrachte ein Leben in Schmerz und starb jetzt einen qualvollen, langsamen Tod.
»Manchmal denke ich, Gott rächt sich an den falschen Leuten«, sagte er zu Nura.
Salman sollte am Vormittag, nachdem er wie jede Woche die gründliche Reinigung des Ateliers vorgenommen hatte, einem Kunden eine bereits bezahlte gerahmte Kalligraphie bringen. Er wickelte die kostbare Arbeit in Zeitungspapier ein und machte sich kurz vor zehn auf den Weg. Auf der Höhe der Viktoriabrücke erblickte er Flieger, der artig vor einem blinden Bettler saß. »Flieger, mein lieber Hund, wer hätte das gedacht«, flüsterte er aufgeregt. Er wollte am liebsten schnell zu ihm hinlaufen, hatte aber Angst um die teure Kalligraphie. Er ging also zuerst zu dem Architekten drei Straßen weiter, um das Kunstwerk abzuliefern.Er musste warten, bis der Architekt persönlich die Kalligraphie entgegennahm und sich bedankte, das hatte ihm Hamid aufgetragen. Hamid war ein stolzer Kalligraph, der oft die Geschichte von dem ägyptischen Herrscher und dem persischen Kalligraphen erzählte. Muhammad Ali, der große Herrscher von Ägypten, bat den persischen Kalligraphen Sinklach, ein berühmtes religiöses Poem zu kalligraphieren, um es in der großen Moschee aufzuhängen, die Muhammad Ali gerade in Kairo erbauen ließ. Der Kalligraph arbeitete zwei Monate an seinem Kunstwerk. Nach Beendigung der Arbeit befahl er seinem Diener, die Rolle nach Ägypten zu begleiten. Am Hofe solle er ankündigen, dass er das kalligraphierte Poem bei sich habe. Für den Fall, dass der Herrscher nicht aufstand und die Rolle in Ehren entgegennahm, solle der Diener wieder kehrtmachen. Er verlange Respekt vor der Kalligraphie. Doch nicht nur Muhammad Ali, sein ganzer Hofstaat erhob sich und jubelte, als der Diener den Saal mit der großen Rolle betrat.
Im Büro des Architekten wollte ihn die Sekretärin zunächst abwimmeln, aber Salman blieb stur, bis sie ihren Chef endlich holte. Der nahm die Kalligraphie freudig entgegen, gab Salman ein Trinkgeld und richtete dem Meister herzliche Grüße und besten Dank aus, wie es sich gehörte.
Salman stürzte hinaus und rannte ohne Unterbrechung bis zur Viktoriabrücke zurück. Der Hund war, gottlob, immer noch an seinem Platz. Er hatte sich in der Zwischenzeit hingelegt und beobachtete die Passanten. Hinter ihm sang der junge blinde Bettler mit herzbewegender Stimme von seinem Schicksal. Plötzlich richtete sich der Hund auf und schaute um sich. Er sah vernarbt und alt aus, aber der freche verschmitzte Blick, den er schon als Welpe hatte, war unverändert. Hunde können einen manchmal so anschauen, dass man denkt, sie verstehen alles, dachte Salman.
Flieger rannte los, sprang schwanzwedelnd an Salman hoch und warf ihn fast um. Er hatte ihn erkannt und bellte seine Wiedersehensfreude aus sich heraus! »Flieger«, rief Salman, »lieber Flieger!« Der Bettler hörte auf zu singen. »Aini«, rief er, »Aini, komm her, Aini, Platz!« Aber der Hund beachtete die Rufe nicht. »Hilfe, jemand willmir den Hund stehlen«, schrie er aus Leibeskräften, »so helft bitte einem Blinden, Gott wird es euch vergelten!«
»Hör auf zu schreien«, rief Salman zurück, »niemand will dir was wegnehmen. Der Hund ist mein. Ich habe ihm das Leben gerettet, als er ausgesetzt wurde, und er wuchs bei mir auf, bis man ihn mir gestohlen hat. Er heißt Flieger.« Salman sah Unsicherheit und Furcht auf dem Gesicht des jungen Bettlers. »Schau, wie er auf mich hört. Flieger! Sitz!« Und der Hund saß und wedelte mit dem Schwanz, und obwohl es ihn zu Salman zog, blieb er sitzen. Der Bettler spürte, dass der Hund gehorchte.
»Er ist mein Hund und ich suche ihn seit Jahren. Wie viel willst du für ihn?«, fragte Salman.
»Vielleicht war er dein Hund«, sagte der Bettler kläglich, »aber jetzt ist er mein Augenlicht. Jetzt heißt er Aini , mein Auge, und er passt den ganzen Tag auf mich auf. Du darfst ihn mir nicht nehmen. Einmal hat er mich, als
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