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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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aufschaute, liefen dem Mann die Tränen über die Wangen. Nie zuvor hatte er Maruns Gesicht so weise und schön gesehen wie in jenem Augenblick.
    Als Salman an diesem kalten Nachmittag allein nach Hause zurückkehrte, fand er die Wohnung furchtbar leer. Sein Vater verbrachte den Rest des Tages mit Marun, Kamil und Barakat im Weinlokal am Eingang der Abbaragasse.
    Salman wanderte durch die Wohnung und fand die alten Hausschuhe seiner Mutter. Sie standen noch genauso unter dem Tisch, wie sie sie das letzte Mal hatte stehen lassen, bevor sie sich endgültig ins Bett gelegt hatte. Er nahm sie in die Hand und begann erneut zu weinen.
    Erst gegen Mitternacht torkelte sein Vater ins Bett.
    Zwei Tage später rief Salman Nura vom Postamt aus an. Als er ihre Stimme hörte, fühlte er sich erleichtert. Und sie fühlte wieder, dass Salman so zerbrechlich war wie eine Vase aus dünnem Glas, die nun einen Sprung bekommen hatte und drohte, jeden Augenblick auseinanderzubrechen. Als sie auflegte, fragte sie sich, ob sie so traurig sein würde, wenn ihre Mutter sterben sollte. Nein, gewiss nicht, sagte sie sich und schämte sich.
    Salman hatte Nura zu sich eingeladen. Sie wollte schon immer wissen, wie und wo er lebte, doch hatte sie ihn aus Schüchternheit nie danach gefragt. Nun sollte sie an einem Nachmittag zu ihm kommen. Bei den Christen hatte keiner großes Interesse daran, wer wen besucht. Die Häuser waren offen und Männer und Frauen besuchten einander. Das hatte sie bereits als kleines Mädchen gesehen, da im Midan-Viertel, wo sie aufwuchs, viele Christen lebten. Dort saßen die Frauen bei jedem Besuch mit den Männern zusammen.
    Salman war es gleichgültig, was die Nachbarn sagten, die einzige, deren Meinung ihm je etwas bedeutet hatte, war längst nicht mehr da: Sarah. Sein Vater war den ganzen Tag und nicht selten auch nachts weg. Wo er sich herumtrieb, interessierte niemanden, am wenigsten Salman. Die Mutter war die Brücke zwischen ihnen gewesen, und nun waren sie zwei Ufer eines Flusses, die sich nie trafen.
     
    An dem Tag, an dem Nura gegen zwei Uhr nachmittags kommen wollte, stieg er kurz nach elf auf sein Fahrrad und fuhr zu Karam.
    Der war hinreißend charmant wie in alten Zeiten, doch als die Sprache auf den Einbruch kam, bei dem Salman ihm geholfen hatte, wand er sich wie ein Aal.
    Salman hätte sich ohrfeigen können für seine Naivität. Er hatte wirklich geglaubt, dass Karam alles nur aus Neugierde wissen wollte. Salman hatte ihm einen Abdruck des altmodischen Schrankschlosses angefertigt. Nach ein paar Tagen händigte Karam ihm ein Schlüsselduplikat aus, mit dem Salman, als der Meister verreist war, den Schrank – unter Mühen – aufmachen und das schöne dicke Buch mit den Geheimnissen des Kalligraphen herausholen konnte.
    Alles abzuschreiben war in der kurzen Zeit unmöglich gewesen. So blieb als einzige Möglichkeit im Damaskus der fünfziger Jahre der Fotograf. Spätestens wenn er daran dachte, hätte sich Salman dreimal ohrfeigen können, weil er so arglos geblieben war und das Ganze lustig und spannend fand. Vierhundertzwanzig Seiten. Der Fotograf hatte eine sehr gute Kamera und machte zweihundertzehn Aufnahmen, jeweils eine von einer Buchdoppelseite. Salman stand abseits und sein Herz fiel ihm in die Hose, als der Buchrücken in der Mitte hörbar knackte, weil der Fotograf eine glatte Oberfläche brauchte.
    »Keine Angst, das gibt sich wieder«, beschwichtigte ihn Karam. Es gab sich nicht wieder.
    Für die Befriedigung der Neugierde zweihundertzehn teure Fotografien anzufertigen und seine, Salmans, Stelle zu riskieren, das gehe ihm nicht in den Kopf, sagte er jetzt mit ruhiger Stimme zu Karam, der ihn weiter umschmeichelte und zu der Stelle beim Juwelier verführen wollte. Er schwadronierte von großen und kleinen Opfern einer Freundschaft. Zum ersten Mal entdeckte Salman, dass Karams Lachen oft gar keine innere Freude ausdrückte, sondern lediglich ein Akt der Gesichtsmuskeln war, die die Lippen zurückzogen und die Zähne entblößten.
    Ein kleiner Junge kam ins Café und bestellte etwas an der Theke.»Hassan, der neue Laufbursche. Er ist ein entfernter Neffe von Samad«, sagte Karam. Salman warf einen Blick auf den kleinen Kerl, der gerade voller Freude in ein Falafelsandwich biss.
    Salman beschloss, schnellstmöglich sein Werkzeug und vor allem seine wichtigen Hefte zu retten, die in der Kammer in Karams Haus lagen. Er musste sich von Karam trennen. Vor allem wollte er auf kein Angebot dieses

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