Das Geheimnis Des Kalligraphen
Tricks der Kalligraphie beherrschte, die vorgeschriebenen Regeln aber nicht um einen Deut überschritt. »Ohne Grenzen zu überschreiten, wirst du nie ein Meister«, sagte ihm Hamid. Aber Samad besaß weder Ehrgeiz noch Fantasie. Er wollte auch nie wie Hamid Farsi nur für die Kalligraphie leben. Er liebte seine Frau und seine drei Söhne abgöttisch, kochte und sang mit ihnen, und diese vier Menschen schenkten ihm all das, was ihm lebenswert schien. Kalligraphie war ein wunderbarer Beruf zum Geldverdienen, mehr nicht. Das sagte er natürlich nicht laut, denn dann wäre er auf der Stelle entlassen worden. Und so gut wie bei Hamid, dessen rechte Hand er nach jahrzehntelanger Arbeit geworden war, verdiente er nirgends.
Samad ließ seine Kollegen spüren, dass er ihre Arbeit schätzte, deshalb liebten sie ihn. Hamid dagegen fürchteten sie. Sie freuten sich immer, wenn der Meister auswärts zu tun hatte. Diesmal schickte Samad sie bereits am frühen Nachmittag nach Hause. Nur einer musste bis sechs Uhr Telefondienst leisten, um Aufträge entgegenzunehmen.
Hamid kehrte schlecht gelaunt zurück. Die Sitzung in Aleppo war nicht so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte, und den Auftrag in Istanbul hatte ein Ägypter bekommen. »Die Türken wollten mir dieArbeit anvertrauen, aber der Vertreter der Saudis entschied sich gegen mich, weil er mich für einen Schiiten hielt. Er konnte in seinem Hirn nicht zusammenbringen, dass einer Farsi heißt, was ›Perser‹ bedeutet, und Sunnit ist«, berichtete er empört. Von der Sitzung in Aleppo erzählte er kein Wort. Die Kalligraphen hatten lautstarken Protest gegen die Schule für Kalligraphie in Damaskus erhoben. Warum die Schule nicht im Norden, abseits vom Zentrum der Macht, ansässig sein sollte? Und wer habe die Macht im Bund? Das Land, keiften sie, sei demokratisch, aber der Bund stecke noch im Kalifat, ein Großmeister vererbe die Macht an einen von ihm auserwählten Nachfolger, das gehe doch nicht. Doch Hamid blieb standhaft. Und schließlich beruhigten sich die Meister der Kalligraphie und boten an, sich in der Öffentlichkeit hinter seinen Vorstoß zu stellen und einstimmig für die Kalligraphieschule in Damaskus einzutreten.
»In Aleppo streitet man leidenschaftlich, aber man lässt – anders als in Damaskus – den Freund nicht im Stich«, sagte ihm der Vorsteher der Sektion arrogant. Die Spitze tat weh.
Erst später sollte Hamid begreifen, dass die Sitzung in Aleppo nicht so schlecht war, wie er es in den ersten Tagen danach empfunden hatte. Er lernte den Kalligraphen Ali Barake kennen, einen kleinen jungen Mann, der bedingungslos zum Großmeister hielt und sich die Beschimpfung der anderen ungerührt anhörte. Ali Barake vergötterte Hamid Farsi und hing an seinen Lippen. Deshalb entschied sich Hamid später für ihn als Nachfolger, auch in der Hoffnung, damit Aleppos Sympathie zu gewinnen, aber da war es bereits zu spät.
Als er nun nach der Rückkehr sein Atelier betrat und alles sauber und bestens organisiert vorfand, war er beruhigt. Er verspürte Lust, seine Gedanken und Eindrücke von Aleppo und Istanbul niederzuschreiben. Er ließ sich von Salman einen Mokka kochen, öffnete den Schrank und holte das dicke Buch hervor, in das er seine Einfälle und Geheimnisse schrieb. Bereits beim Öffnen des Schranks spürte er, dass irgendetwas am Schloss nicht in Ordnung war.
Drinnen fehlte nichts, doch als er das schwarze leinengebundene Buch aufschlug, erkannte er, dass eine fremde, grobe Hand es beschädigthatte. Die Bindung hatte einen Riss. Jemand hatte das Buch mit Gewalt geöffnet. So ein Riss konnte nicht repariert werden. War das Buch schlecht gebunden, flogen die Seiten heraus, war es, so wie sein dickes Heft, gut gebunden, öffnete es sich, immer wenn man es aufschlug, genau an dieser Stelle. Sein Heft war das Geschenk seines Meisters Serani und war von dem legendären Binder Salim Baklan hergestellt worden.
Hamid explodierte. Er schrie und schimpfte so laut, dass das ganze Atelier zusammenzuckte. Er rief Samad zu sich und beschuldigte und beschimpfte ihn. Sein Assistent stand mit gesenktem Kopf vor ihm und überlegte, wer von den Mitarbeitern in den letzten Tagen unnatürlich nervös gewesen war. Er brauchte nicht lange zu überlegen: Salman.
Als Hamid endlich Pause machte, weil ihm die Luft wegblieb und die Nachbarschaft sich langsam vor dem Schaufenster versammelte, schaute ihn Samad verächtlich an: »Du machst mich vor allen Nachbarn
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