Das Geheimnis Des Kalligraphen
Suk-Saruja-Viertels, wo einst sein Atelier lag.
Hamid war einer von drei Privilegierten unter achthundert Gefangenen. In der Nachbarzelle saß der Sohn eines reichen Damaszener Händlers wegen siebenfachen Mordes. Er war ein stiller Mann von mitleiderregender Blässe, der die Familie seiner Frau in einem Streit niedergemetzelt hatte. In der dritten, etwas größeren Zelle verbüßte der Sohn eines ihm unbekannten Emirs seine lebenslange Haftstrafe wegen des heimtückischen Mordes an einem Cousin. Es war um einen großen Waffenschmuggel gegangen. Wäre der Ermordete nicht der Schwiegersohn des Präsidenten gewesen, hätte er keinen einzigen Tag im Gefängnis verbracht, beteuerte der Mörder. Er war ein unangenehmer Schwätzer, laut, angeberisch und primitiv. Hamid mied jedwede Begegnung mit ihm.
Hamids Zelle war ein geräumiges Zimmer. Und ohne Gitter an Tür und Fenster hätte man sie für eine vornehme Mansarde gehalten. Er durfte seine Kalligraphieutensilien bei sich haben, weil der Gefängnisdirektor, ein ferner Verwandter des Ministerpräsidenten Chalid al Azm, ein großer Verehrer seiner Kunst war. Er hatte ihm bereits am ersten Tag bei einem Tee gesagt, er bedauere es sehr, dass er wegen einer Frau im Gefängnis sitze. Er selbst habe vier offizielle und fünf inoffizielle Frauen und für keine von ihnen würde er Streit mit einem anderen Mann anfangen.
Er bedauere, dass er ihn nicht freilassen könne, aber solange er Direktor dieses Gefängnisses sei, werde Hamid wie ein Adliger behandelt werden, denn Kalligraphen seien die wahren Fürsten der arabischen Kultur. »Was bin ich mit meinem Jurastudium an der Sorbonne im Vergleich zu dir?«, fügte er mit gespielter Bescheidenheit hinzu.
Hamid war nicht nach geschwollenen Reden zumute, und der Mann schwatzte ohne Punkt und Komma wie ein Betrunkener. Aber er sollte bald feststellen, dass Direktor al Azm es ernst meinte. Sowohl die Wärter wie auch die älteren Häftlinge, die wahren Herrscher im Gefängnis, zollten ihm Respekt. Er musste weder Dienste leisten noch sich für irgendetwas anstellen. Ein Wärter klopfte zweimal am Tag undfragte untertänig, aber nicht ohne Humor, was er sich außer der Freiheit wünsche.
Blumentöpfe mit seinem geliebten Jasmin und seinen Rosen wurden schnell herbeigeschafft und schmückten den Gang unter freiem Himmel, der seine Zelle vom Geländer zum Innenhof trennte. Auch Tinte und Papier bester Qualität durfte er bestellen.
Es verging keine Woche und schon kam der erste Auftrag des Direktors, ein Koranspruch in der Kufischrift, die Hamid nicht besonders mochte. »Und es eilt«, fügte der Wärter hinzu, wie später bei allen Aufträgen, mit denen der Herr Direktor seine vornehmen Freunde im In- und Ausland bedachte.
Auf seiner ersten und einzigen Wanderung durch die unteren Stockwerke des Gefängnisses, die er in Begleitung eines Wärters machen durfte, wurde Hamid klar, in welchem Luxus er und die zwei Sprösslinge mächtiger Clans in der Zitadelle lebten. Alle anderen waren in feuchtem, dunklem Elend gefangen, das nach Verwesung stank.
Was waren das für Menschen? Es gab unter den Gefangenen Professoren, Dichter, Rechtsanwälte und Ärzte, die nicht nur eine Stunde lang frei über die arabische Dichtung und Philosophie referieren konnten, sondern auch die französische, englische und griechische Dichtung liebten und hier drinnen bereit waren, für eine Zigarette, eine Suppe oder auch ohne Grund einen Menschen bestialisch umzubringen. Sie schienen beim Eintritt ins Gefängnis die Zivilisation wie einen dünnen Regenmantel abgestreift zu haben.
Nie wieder wollte er diese unteren Stockwerke betreten.
Neben den wichtigsten Kalligraphieutensilien, dem Zertifikat, das ihn als Meister der Kalligraphie auswies, einem handgroßen Unikat aus dem dreizehnten Jahrhundert, mehreren Heften mit theoretischen und geheimen Schriften über die Kalligraphiekunst und drei raren Kalligraphien aus dem 18. Jahrhundert, die er von seinem Meister geschenkt bekommen hatte, ließ er sich aus dem Atelier ein Foto aus alten Zeiten holen, das dort immer gerahmt über seinem Arbeitsplatz hing. Zeit und Feuchtigkeit hatten das Bild fleckig werden und seine schwarze Farbe in helle Sepia übergehen lassen. Er hängte es an die Wand neben dem Fenster.
Das Bild war nach einer Feier im Haus der Großeltern aufgenommen worden. Er selbst war noch ein kleines Kind. Weder seine Schwester Siham noch sein jüngerer Bruder Fihmi waren schon auf der Welt. Nie
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