Das Geheimnis Des Kalligraphen
liegen. Die Mauer war so verwittert, dass man kaum einen Unterschied zwischen dem Verputz und den hölzernen Fensterflügeln sah, wenn sie geschlossen waren. Nun standen sie offen. Hamid bildete sich ein, eine Frau hätte ihm zugewunken. Er reagierte nicht.
Er musste sich eingestehen, dass er weder dieses Haus noch die anderen Nachbarhäuser je beachtet hatte. Sein Haus endete für ihn ohnehin im Erdgeschoss. Er ging nie in die Räume des ersten Stockwerks oder aufs Flachdach, wo seine Frau immer die Wäsche aufhängte. Er hatte nie in die anderen Innenhöfe geschaut. Das ging ihn nichts an, so hatten es ihm sein Großvater und sein Vater eingetrichtert. Die Häuser der anderen waren tabu.
Hamid stellte sich unter das Fenster und schaute nach oben. Jedes Papier, mit einem kleinen Kieselstein beschwert, könnte hierher gelangen, dachte er.
Er kehrte zu seinem Stuhl am Brunnen zurück und sah noch einmal nach oben. Das Fenster war nun wieder geschlossen und kaum noch zu erkennen.
Am nächsten Morgen ging er früh aus dem Haus und kam erst abends wieder. Konnte es sein, dass der Hurenbock Nura immer am Vormittag verführt hatte? Er erinnerte sich, dass Abbani ihm einmal gesagt hatte, vor neun Uhr wache er nicht auf, da er fast jede Nacht unterwegs sei. Dafür esse er am frühen Abend mit derjenigen seiner Frauen, die an der Reihe sei.
Wie auch immer, wenn es nur die Hurerei eines Gockels gewesen wäre, hätte Nassri spätestens bei der ersten Begegnung gewusst, dass Nura Hamids Frau war, und sofort aufgehört, den Ehemann um weitere Briefe zu bitten. Oder war das Ganze von langer Hand geplant? Hatte Nassri Nura von Anfang an aufgesucht, um ihn, Hamid, zu demütigen, überlegte er und fühlte einen unendlichen Hass gegen Nassri Abbani, dem er nur Schönheit geschenkt und von dem er den tödlichen Schlag gegen seinen Ruf bekommen hatte. Und plötzlich erschien ihm die Großzügigkeit der Spende für die Kalligraphieschule wie ein Teil des teuflischen Plans, seinen Traum wie ein Kartenhaus zusammenbrechen zu lassen. Der Feind war kein bärtiger Idiot. Nein, der Feind war ein lächelnder Mann, der nur darauf wartete, sein scharfes Messer in seinen Leib zu stoßen.
Am nächsten Morgen rief Hamid mehrmals vergeblich bei Karam an. Er ging durch die Altstadt und fühlte zum ersten Mal die Blicke der anderen, die sich in seine Haut einbrannten.
Er kehrte auf halber Strecke um, schlug die Tür hinter sich zu und verkroch sich in das dunkle Schlafzimmer.
Plötzlich hörte er das Telefon klingeln.
Er lief in den Salon, wo das Telefon stand. Laila Bakri, eine Schulkameradin seiner Frau, wollte sich erkundigen, ob Nura zurückgekommen sei.
Er schloss die Augen und sah Funken vor dem dunklen Firmament. »Was geht dich das an, blöde Hure«, schrie er in die Muschel und legte auf.
42.
F ünf Monate nach dem Verschwinden seiner Frau erstach Hamid Farsi mit einem scharfen Messer Nassri Abbani, als dieser zu später Stunde vom Hammam Nureddin im Gewürzmarkt kommend in die dunkle Gasse einbog, die zum Haus seiner vierten Frau Almas führte.
Nassri starb, ohne zu wissen, dass seine Frau Almas ihn, von Karam unterstützt, verraten hatte. Sie war bitter enttäuscht über seine Hurerei. Er, der in einem Augenblick der Schwäche in ihr Leben eingedrungen war, ließ ihr, nachdem er sie geschwängert hatte, nur noch einen Weg – wenn sie nicht sterben wollte –, nämlich ihn zu heiraten. Und dann betrog er sie, wann immer er konnte.
Sie begann Nassri nach der Hochzeit leidenschaftlich zu lieben. Allein seine Großzügigkeit ihr gegenüber wäre Grund genug gewesen. Aber je mehr sie ihn liebte, umso kälter wurde er. Und als sie ihm nach Narimans Geburt noch einmal sagte, wie sehr sie ihn liebe, erwiderte er verächtlich: »Schon gut, schon gut, du wirst dich bald davon erholen. Es ist wie Fieber, normalerweise harmlos. Du solltest lieber abnehmen.«
Von dem Tag an war ihre Liebe verdunstet.
Als Karam sie eines Tages besuchte, erzählte er ihr von Asmahan, der Edelhure, die Nassri jahrelang täglich besucht hatte. Sie habe sich angeblich in ihn verliebt, und da er ihre Liebe nicht erwidert habe, sei sie nicht länger bereit gewesen, ihn noch einmal als Freier zu empfangen.
Und dann kam der Skandal mit der Frau des Kalligraphen. Sie hatte schon seit geraumer Zeit einen Verdacht gehabt, weil Nassri immer öfter zur Mansarde hinaufstieg, und sie fühlte sich noch tiefer getroffen als damals durch die Hure Asmahan. Jetzt
Weitere Kostenlose Bücher