Das Geheimnis Des Kalligraphen
schlich sich Hamid ins Schlafzimmer der Eltern, wo sein Bruder im großen Bett schlief. Er wollte mit ihm spielen und ihn vielleicht auch ein bisschen ärgern. Hamid schüttelte den Jungen, aber der wollte nicht aufwachen. Als er ihn stärker kniff, fing Fihmi so laut zu schreien an, dass Hamid es mit der Angst zu tun bekam und den Mund des Bruders zuhielt. Der Kleine zappelte und schlug um sich. Was dann geschah, konnte nie aufgeklärt werden. Hamid sprach mit niemandem darüber.
Der Bruder fiel jedenfalls kopfüber auf den Fliesenboden und war schlagartig still. Hamid, von entsetzlicher Angst gepackt, rannte in sein Zimmer und tat so, als würde er mit Murmeln spielen. Kurz darauf hörte er die Mutter schreien, dass es ihm durch Mark und Bein ging. Sie schrie so durchdringend und laut, dass bald die Nachbarschaft das Haus füllte. Um ihn kümmerte sich keiner.
Fihmis Tod traf seine Eltern hart. Sein Vater machte der Mutter Vorwürfe, dass nicht der Sturz den Jungen umgebracht hätte, sondern die vielen Pillen der Scharlatane. »So musste er mehr leiden, als wenn duihn dem Willen Gottes anvertraut hättest«, rief er. Der Sturz sei von Engelshand ausgeführt, um den Jungen von weiteren Qualen zu befreien.
Als Hamid das hörte, glaubte er für einen Augenblick, er hätte an jenem Tag die unsichtbare, kräftige Hand eines Engels gespürt. Was er allerdings für sich behielt, weil er die verzweifelte Laune seines Vaters fürchtete und die Mutter mit ihrer Trauer beschäftigt war. Sie hatte für keinen und nichts Augen, klagte und weinte und machte sich Vorwürfe. Und weil sie bei der Nachbarin Kaffee getrunken hatte, als Fihmi starb, verfluchte sie den Kaffee und rührte ihn nicht mehr an bis zu ihrem tragischen Tod.
Nun wurde aus dem armen Pechvogel Fihmi endgültig ein Heiliger, den die Mutter Tag und Nacht anbetete. Ihre trauernde Verehrung ging so weit, dass sie sein Konterfei auf ein Goldmedaillon prägen ließ, das sie an einer Kette um den Hals trug, was für den Vater wiederum eine lächerliche Nachahmung eines christlichen Brauches war.
Siham war bereits mit sechs Jahren so abgehärtet und reif, dass sie keine Achtung mehr vor ihren Eltern und ihrem Bruder zeigte. Der religiöse Wahn ihrer Mutter, vom dem sich der Vater, trotz anfänglicher Gegenwehr langsam anstecken ließ, widerte sie an. Plötzlich beteten beide, zündeten Kerzen und Weihrauch an und sprachen nur noch von Engeln und Dämonen.
Siham lachte frech, wenn sich der Wahn ihres Vaters und ihrer Mutter wie in einer Spirale steigerte. Und obwohl es Ohrfeigen gab, ließ sie nicht davon ab. Ihr Herz wurde mit den Jahren kälter als der Eisblock, der täglich kam, um Gemüse und Fleisch im Schrank frischzuhalten.
Aus dem dürren Mädchen wurde eine große, sehr weibliche Frau, die allen Männern den Kopf verdrehte. Die Eltern lebten nun Tag und Nacht in der Angst, dass die Tochter Schande über das Haus bringen würde, und willigten sofort ein, als ein armer Fotograf um Sihams Hand anhielt. Siham war gerade sechzehn. Jahre später verriet sie Hamid, dass sie das Ganze eingefädelt hatte. Sie hatte den Fotografen gleich bei der ersten Begegnung um den Finger gewickelt. »Ich wollte diesem verfluchten Grab entkommen«, hatte sie gesagt. Ihr Mann, dernicht besonders helle war, glaubte wirklich, diese Schönheit, die sich von ihm in Posen amerikanischer Filmdiven fotografieren ließ, wäre in ihn verliebt. Dagegen behandelte sie ihn wie einen Hund. Hamid machte einen großen Bogen um ihr Haus, weil er weder die Kälte der Schwester noch die Untertänigkeit des Mannes ertrug.
Seine Katastrophe ließ sie kalt. Sie hatte nur ein Interesse, alles an sich zu reißen. Sie, die ihm mit Respekt und schleimiger Anbiederung begegnet war, als er im Zenit seiner Berühmtheit stand. Sie suchte ihn immer wieder in seinem Atelier auf, um Geld für irgendwelche Geschmacklosigkeiten zu erbetteln. Jedes Mal verfluchte er sein weiches Herz, wenn sie frech kicherte, triumphierend das Geld in ihre Handtasche steckte und Kaugummi kauend aus dem Laden hinauswackelte.
Nun, da er im Gefängnis saß, genierte sie sich, ihn zu besuchen, hatte aber keine Skrupel, sein Geld und sein Hab und Gut einzukassieren.
Um die düsteren Gedanken an seine Schwester zu vertreiben, versuchte Hamid mit einer kleinen Lupe das Gesicht seines Vaters auf dem Foto näher zu erkunden.
Konnte man erkennen, dass er große finanzielle Schwierigkeiten hatte? Er hatte ein Jahr zuvor seine Ausbildung
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