Das Geheimnis Des Kalligraphen
hatte, die alte Köchin Widad. Hamid erinnerte sich gut an die Frau, die immer mit einer Schürze voller Fettflecken in der Küche stand, hier auf dem Bild aber ein elegantes schwarzes Kleid trug.
Das Bild schien ihm Zeuge einer anderen Welt, wie Bilder von Indianerhäuptlingen, Haremsdamen oder Hawaiitänzerinnen. Und diese Welt war bald darauf für immer verschwunden. Das Foto hielt einen Augenblick des Glücks fest. Es war eine jener wenigen Stunden seiner Kindheit und Jugend, in denen er den Geschmack unendlicher Freude genoss. Großvater liebte ihn und sagte jedem, Hamid würde mit fünfzehn das Teppichgeschäft übernehmen, denn er habe im Gegensatz zu den eigenen Söhnen seinen scharfen Verstand geerbt. Er erlaubte niemandem, Hamid hart anzufassen, verwöhnte ihn und spielte wie ein Kamerad mit ihm. Er war es auch, der Hamid in die Geheimnisse der Mathematik und Arithmetik einführte. Diese Stunden mit den wundersamen Rechnungen waren es, die ihn für immer die Zahlen lieben lehrten. Und wenn Hamid etwas nicht verstand und nachfragte, so antwortete der Großvater geduldig, als hätte er alle Zeit der Welt.
Hamid wollte immer beim Großvater bleiben, deshalb gab es nach jedem Besuch eine Tragödie, denn er wollte nicht zurück in das Haus seiner Eltern, in dem Grabeskälte herrschte. Das Haus der Eltern roch immer säuerlich, das der Großeltern nach Jasmin und Rosen.
Sein Großvater Hamid Farsi war bis zu seinem Tod sein Beschützer, was besonders seine Mutter ärgerte, die ihren Schwiegervater hasste. Sie stand auf dem Bild so weit wie möglich von ihm entfernt, mit verkniffenemMund, als hätte sie und nicht Hamid kurz zuvor Schläge bekommen. Auf dem Foto sah man ihm nichts an, obwohl sein rechtes Ohr damals wie Feuer brannte. Aber der Triumph über seine Mutter ließ ihn die Schmerzen vergessen.
Sie war an dem Tag, irgendeinem runden Geburtstag seiner Großmutter, besonders schlecht gelaunt gewesen. Während der Fotograf im Hof Vorbereitungen für das große Familienbild traf, schlug sie ihn in einem der kleinen fensterlosen Zimmer des großen Hauses, weil er nicht zwischen ihr und seinem Vater stehen, sondern unbedingt auf dem Schoß des Großvaters sitzen wollte.
Die Köchin hörte ihn schreien, öffnete die Tür und bat die Mutter, sofort mit dem Schlagen aufzuhören, sonst würde sie dem Hausherrn, Hamid Bey, erzählen, dass sie seinen Liebling quälte.
Daraufhin stürzte die Mutter beleidigt hinaus, die Köchin wusch ihm das Gesicht, kämmte ihm sorgfältig die Haare und flüsterte ihm aufmunternd zu, dass der Großvater ihn ganz besonders liebe. Und dann gab sie ihm ein Karamellbonbon.
Damals war er vier oder fünf, gerade alt genug, um alles zu verstehen.
3.
A ls Erstgeborener trug Hamid nach alter, seit dem Mittelalter bestehender Sitte den Namen seines Großvaters, nicht ahnend, dass dieser Name sein Schicksal bestimmen sollte.
Ein Jahr nach der Aufnahme des Familienfotos kam sein Bruder Fihmi zur Welt. Er sah seiner Mutter sehr ähnlich, war blond, blauäugig und rundlich, während Hamid die dunkle Haut-, Augen- und Haarfarbe von seinem Großvater geerbt hatte.
Fihmi wurde der absolute Liebling der Mutter, die in ihrem Herzen keinen Platz für andere übrig ließ. Als er zwei wurde, noch nicht sprechen und auch nicht gerade laufen konnte, schleppte ihn seine Muttervon Arzt zu Arzt – und da man damals die Ärzte in Damaskus an den Fingern einer Hand abzählen konnte, lief sie von Scharlatan zu Scharlatan.
Doch es half alles nichts. Später sollte sich herausstellen, dass Fihmi unter einer unheilbaren Hirnkrankheit litt. Er war schön wie eine Puppe. Die Mutter ließ seine lockigen Haare lang wachsen, so dass Fihmi wie ein hübsches Mädchen aussah. Fast jede Woche ließ ihn die Mutter für teures Geld fotografieren, schmückte die Bilder mit Olivenzweigen und zündete bisweilen sogar eine Kerze davor an und ließ in einer Schale Weihrauch verbrennen.
Auch Siham, die ein Jahr nach Fihmi zur Welt kam, empfing keine Liebe von der Mutter. Das Mädchen wäre verwahrlost, wenn nicht eine Witwe aus dem Nachbarhaus gekommen wäre und sie wie ihre eigene Tochter gepflegt hätte. Manchmal vergaß die Mutter, die Tochter abzuholen, und so blieb diese über Nacht bei der Witwe, die sich immer ein Kind gewünscht und nie eines bekommen hatte.
Und dann kam der Tag, der das Leben der ganzen Familie umkrempeln sollte. Während die Mutter bei der Witwe im Nachbarhaus einen Plausch hielt,
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